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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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beruht nur auf Einbildung und sollte bei den Insassen einer gutgeführten Anstalt nicht geduldet werden. Mamie muß also dazu gebracht werden, Zwetschgen zu mögen. So sagt unsere Grammatiklehrerin, die über Mittag bei uns bleibt und die Moral unserer Zöglinge überwacht. Heute, ungefähr um 1 Uhr, führte sie mir Mamie in meinem Büro vor, unter der Anklage, daß sie sich geweigert, absolut geweigert habe, den Mund aufzumachen und eine Zwetschge hineinzutun. Das Kind wurde auf einen Schemel gesetzt, um auf eine Strafe von mir zu warten. Nun mag ich, wie Du weißt, keine Bananen, und ich würde es verabscheuen, gezwungen zu werden, welche hinunterzuwürgen. Warum sollte ich also Mamie Prout zwingen, Zwetschgen hinunterzuschlucken?
    Während ich noch überlegte, wie ich Miß Kellers Autorität aufrechterhalten und doch zugleich für Mamie einen Ausweg offenhalten könne, wurde ich ans Telefon gerufen.
    „Bleib da sitzen, bis ich zurückkomme“, sagte ich, ging hinaus und machte die Türe zu.
    Der Anruf war von einer freundlichen Dame, die mich zu einer Komiteesitzung fahren wollte. Ich habe Dir noch nicht erzählt, daß ich das örtliche Interesse für uns mobil mache. Die reichen Müßiggänger, die Güter in der Nachbarschaft besitzen, fangen an, aus der Stadt herauszuziehen, und ich lege meine Pläne darauf an, sie abzufangen, bevor sie durch zu viele Gartenfeste und Tennis-Tourniere abgelenkt sind. Sie haben dieser Anstalt noch nie im Geringsten genutzt, und ich meine, es ist wirklich Zeit, daß sie einmal etwas von unserer Existenz merken. Als ich zur Teezeit nach Hause kam, hielt Dr. MacRae mich im Gang an, weil er aus meinem Büro ein paar Statistiken haben wollte. Ich machte die Türe auf, und da saß Mamie Prout genau, wo sie vor vier Stunden hingepflanzt worden war.
    ,,Mamie, Liebling!“, rief ich entsetzt, „Du warst doch nicht die ganze Zeit hier?“
    „Doch, Frau Direktor“, sagte Mamie, „Sie haben mir gesagt, ich solle warten, bis Sie zurück sind.“
    Das arme, geduldige, kleine Ding wankte vor Übermüdung, klagte aber nicht mit einem Ton.
    Ich muß Sandy zugestehen, daß er süß war. Er nahm sie in den Arm und trug sie in meine Bibliothek und liebkoste sie, bis sie wieder lächelte. Jane stellte den Nähtisch vor den Kamin, und während der Doktor und ich Tee tranken, bekam Mamie ihr Abendessen. Ich nehme an, daß nach der Theorie mancher Pädagogen, jetzt, da sie völlig ausgelaugt und hungrig war, der psychologische Augenblick gewesen wäre, sie mit Zwetschgen zu füttern. Aber Du wirst mit Vergnügen hören, daß ich nichts dergleichen tat, und daß der Doktor ausnahmsweise meine unwissenschaftlichen Prinzipien unterstützte. Mamie bekam
    das köstlichste Abendessen ihres Lebens, verschönt durch Erdbeermarmelade aus meiner privaten Dose und Pfefferminz aus Sandys Tasche. Wir gaben sie glücklich und getröstet ihren Kameraden zurück, aber immer noch mit der bedauernswerten Abneigung für Zwetschgen.

    Ist Dir je etwas Schlimmeres vorgekommen als dieser seelenzermalmende blinde Gehorsam, den Mrs. Lippett so beharrlich gezüchtet hat? Es ist die Einstellung des Waisenhauses gegenüber dem Leben, und irgendwie muß ich sie ausmerzen. Initiative, Verantwortung, Neugier, Erfindungsgabe, Kampflust, — ach Gott! ich wollte, der Doktor hätte ein Serum, mit dem man alle diese Eigenschaften in den Kreislauf einer Waise einspritzen könnte.
    Später.
    Ich wollte, Du kämst wieder nach New York. Ich habe Dich zum Presseagenten der Anstalt ernannt, und wir brauchen sofort etwas von Deiner blumigsten
    Prosa. Wir haben hier sieben kleine Kinder, die nach Adoption schreien, und es ist Deine Sache, für sie Reklame zu machen.
    Die kleine Gertrud schielt, ist aber lieb, anhänglich und freigebig. Kannst Du sie nicht so überzeugend darstellen, daß eine liebende Familie bereit ist, sie zu nehmen, auch wenn sie nicht schön ist? Ihre Augen können, wenn sie älter ist, operiert werden; aber hätte sie einen schielenden Geist, könnte kein Chirurg auf der Welt das korrigieren. Das Kind weiß, daß etwas fehlt, obwohl es in seinem Leben noch nie lebendige Eltern gesehen hat. Es streckt rührend seine Arme nach jedem Vorübergehenden aus. Verwende das ganze Pathos, dessen Du fähig bist, und schau, ob Du nicht einen Vater und eine Mutter angeln kannst.
    Vielleicht könntest Du eine New Yorker Zeitung dazu bringen, laufend einen bebilderten Sonntagsartikel über eine Menge Kinder zu drucken. Ich schicke

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