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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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ich mein ganzes Leben lang schauspielern. Er möchte, daß ich auf sein Gesicht achtgebe, und lächle, wenn er lächelt, und ernst bin, wenn er ernst ist. Er kann sich nicht vorstellen, daß ich genau so ein Einzelmensch bin wie er.
    Ich habe gesellschaftliche Fähigkeiten. Ich ziehe mich gut an, ich falle auf, ich wäre eine ideale Gastgeberin im Hause eines Politikers, -— und deshalb hat er mich gem.
    Jedenfalls sah ich plötzlich mit furchtbarer Deutlichkeit, daß ich, wenn ich so weitermache, in ein paar Jahren dahin gelange, wo Helen Brooks ist. Im, Augenblick ist sie ein viel besseres Ehebeispiel für mich, als Du es bist, liebe Judy! Ich glaube, solch ein Anblick wie Du und Jervis ist eine Gefahr für die Gesellschaft. Ihr seht so glücklich, friedlich und verträglich aus, daß Ihr eine schutzlose Zuschauerin dazu bewegt, fortzurasen und den ersten Mann zu ergreifen, den sie trifft — und das ist immer das Falsche.
    Wie dem auch sei, Gordon und ich haben uns entschieden und endgültig verzankt. Ich hätte lieber ohne einen Streit Schluß gemacht, aber in Anbetracht seines Temperaments — und wie ich gestehen muß, auch des meinen — mußten wir in einer großen, rauchbildenden Explosion losplatzen. Er ist gestern nachmittag gekommen, obwohl ich ihn gebeten hatte, nicht zu kommen, und wir haben einen Spaziergang auf den Knowltop gemacht. Dreiundeinhalb Stunden lang sind wir auf dem windigen Moor auf und ab gegangen und haben uns bis in die hintersten je behaupten können, daß der Bruch kam, weil wir uns gegenseitig falsch verstanden!
    Es endete damit, daß Gordon ging, um nie wiederzukehren. Als ich zum Schluß dastand und sah, wie er über dem Rücken des Hügels weg dem Blick entschwand, und erfaßte, daß ich frei und allein und mein eigener Herr war, — ja, Judy, da durchfuhr mich ein Gefühl freudigster Erleichterung und Freiheit! Ich kann es Dir nicht erklären, ich glaube, kein glücklich verheirateter Mensch kann sich vorstellen, wie wunderbar und herrhch allein ich mich fühlte. Ach, ich atme auf, weil es geregelt ist! Mir ist die Wahrheit in der Nacht des Feuers aufgegangen, als ich vor dem brennenden alten John-Grier-Heim erkannte, daß ein neues an seine Stelle gebaut würde, und ich dabei fehlen würde. Eine fürchterliche Eifersucht hat mein Herz ergriffen. Ich konnte nicht darauf verzichten, und in jenen qualvollen Minuten, als wir glaubten, wir hätten den Doktor verloren, wurde mir klar, wieviel sein Leben bedeutet, wieviel mehr als das von Gordon. Und dann wußte ich, daß ich ihn nicht im Stich lassen könne; ich mußte weitermachen und alle Pläne ausführen, die wir zusammen geschmiedet hatten.
    Ich fürchte, daß dies nur ein Durcheinander von Worten ist; ich bin so voll von einem Durcheinander drängender Gefühle; ich möchte nichts als reden und reden , bis ich alles klar habe. Aber jedenfalls bin ich im winterlichen Zwielicht gestanden, habe die klare, kalte Luft tief eingeatmet und mich herrlich, wundervoll, elektrisiert und frei gefühlt; dann bin ich den Hügel heruntergerannt, gehupft und gelaufen und über die Wiesen, bis an unsere eiserne Einzäunung und habe vor mich hingesungen. Ach, es war wirklich ein schandhaftes Verhalten, da ich doch, allen Vorbildern gemäß, mich mit einem gebrochenen Flügel hätte heimschleppen sollen. Ich habe keinen einzigen Gedanken an den armen Gordon gewendet, der ein gebrochenes, verratenes Herz zur Bahnstation trug.
    Als ich ins Haus trat, begrüßte mich das fröhliche Lärmen der Kinder, die zum Essen marschierten. Sie gehörten plötzlich mir. In der letzten Zeit, als mein Verhängnis immer näher rückte, schienen sie sich zu kleinen Fremdlingen zu verflüchtigen. Ich habe die drei nächsten ergriffen und fest an mich gepreßt. Ich habe plötzlich so viel neues, überströmendes Leben in mir; ich habe das Gefühl, als sei ich aus dem Gefängnis entlassen und frei. Ich fühle — nein, ich höre schon auf —, ich möchte nur, daß Du die Wahrheit weißt. Zeig Jervis diesen Brief nicht, erzähle ihm nur, was drin steht, in einer gesittet gedämpften und betrübten Art.
    Es ist jetzt Mitternacht, und ich will versuchen, einzuschlafen. Es ist herrlich, nicht jemand zu heiraten, den man nicht heiraten möchte. Ich bin froh über Helen Brooks, ja, und über das Feuer und alles, was mich klar sehen ließ. In meiner Familie hat es noch nie eine Ehescheidung gegeben, und es wäre ihr gräßlich gewesen.
    Ich weiß, daß ich entsetzlich

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