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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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fürchterliche Tragödie sein, und ich nehme an, er kann nicht darüber reden, auch wenn er möchte. Ich verstehe jetzt, warum er in bezug auf Vererbungsfragen so morbide ist. — Wahrscheinlich fürchtet er für das kleine Mädchen. Wenn ich an alle Witze denke, die ich über das Thema gemacht habe, bin ich entsetzt! Wie sehr muß ich ihn gekränkt haben. Ich bin mir selbst böse, und ihm auch.
    Ich habe das Gefühl, daß ich den Mann nie mehr sehen möchte. Erbarmen! Hast Du je eine solche Verwirrung gesehen, wie die, in die wir uns da hineinmanövriert haben?
    Deine Sallie.

    PS. Tom McComb hat Mamie Prout in einen Mörtelkasten gestoßen, den die Maurer benützen. Sie hat Brandbeulen. Ich habe den Doktor rufen lassen.

24. Juli.
    Meine liebe Gnädigste!
    Ich muß über die Vorsteherin des John-Grier-Heims Empörendes und Skandalöses berichten. Bitte, sieh zu, daß es nicht in die Zeitung kommt. Ich kann mir die pikanten Einzelheiten der Untersuchung vorstellen, bevor sie von den Beamten „zur Bekämpfung der Grausamkeit“ abgeführt wird.
    Ich habe heute morgen am oifenen Fenster in der Sonne gesessen und ein liebliches Buch über die Fröbelsche Theorie der Kindererziehung gelesen, — laß Dich niemals im Zorn gehen, sprich immer liebevoll mit den Kleinen. Obwohl sie böse wirken mögen, sind sie nicht wirklich böse. Entweder sie fühlen sich nicht gut, oder sie haben nichts Anregendes zu tun. Strafe nie; lenke nur ihre Aufmerksamkeit ab. Ich war in einer sehr erhobenen, hebevollen Stimmung gegenüber dem ganzen jungen Leben in meiner Nähe, als eine Gruppe kleiner Buben unter meinem Fenster meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
    „Au — John — tu ihm nicht weh!“
    „Laß sie laufen!“
    „Mach’s schnell tot!“
    Und durch ihre Proteste ertönte das gequälte Schreien eines leidenden Tieres. Ich habe das Fröbel-Buch fallen lassen, bin runter gerannt und bin aus einer Seitentür herausgestürmt. Sie haben gesehen, daß ich komme, und sind nach rechts und links weggerannt. Dadurch wurde Johnnie Cobden sichtbar, der eine Maus marterte. Ich will Dir die scheußlichen Einzelheiten ersparen. Ich habe einem der Buben zugerufen, er solle kommen und das Geschöpf aufs schnellste ertränken! Ich packte John beim Kragen und zerrte ihn, obwohl er zappelte und ausschlug, zur Küchentür herein. Er ist ein großer, schwerer, dreizehnjähriger Kerl, und er hat wie ein kleiner Tiger gekämpft und sich im Vorbeikommen an Pfeilern und Türpfosten festgeklammert. Normalerweise wäre ich mit ihm kaum fertig geworden; das Sechzehntel irisches Blut, das in mir ist, war ganz obenauf, und ich war wild vor Wut. Wir sind in die Küche gestürzt, und ich habe mich hastig nach einem Instrument zur Bestrafung umgesehen. Der Pfannkuchendreher war der erste Gegenstand, den ich sah. Ich ergriff ihn und schlug das Kind damit aus Leibeskräften, bis an Stelle des kämpfenden Raufbolds von vorhin ein zusammengekauerter, winselnder Bettler um Gnade flehte.
    Und wer mußte jetzt gerade plötzlich mitten in den Ausbruch hereinplatzen? Dr. MacRae! Sein Gesicht war vor Erstaunen völlig ausdruckslos. Mit Riesenschritten kam er, nahm mir den Pfannkuchendreher aus der Hand und stellte den Buben auf die Beine. Johnnie hat sich hinter ihm versteckt und sich festgeklammert! Ich war so wütend, daß ich nicht reden konnte; es war noch viel, daß ich nicht in Tränen ausbrach.
    „Kommen Sie, wir werden ihn ins Büro mitnehmen“, war das einzige, was der Doktor sagte. Und wir marschierten hinaus, wobei Johnnie sich so fern von mir hielt wie möglich und auffallend hinkte. Wir ließen ihn im Vorzimmer, gingen in meine Bibliothek, und machten die Türe hinter uns zu.
    „Was in aller Welt hat das Kind getan?“ fragte er.
    Da habe ich nur noch den Kopf auf den Tisch gelegt und zu weinen angefangen! Ich war gefühlsmäßig und körperlich völlig erschöpft. Meine ganze Kraft war daraufgegangen, mit dem Pfannkuchendreher zu schlagen.
    Ich schluchzte die ganzen blutigen Einzelheiten heraus, und er sagte, ich solle nun nicht mehr daran denken, die Maus sei jetzt tot. Dann holte er mir etwas Wasser zum Trinken und sagte, ich solle nur weinen, bis ich müde sei; es werde mir gut tun. Mir war fast, als habe er mir den Kopf gestreichelt! Jedenfalls war es seine beste ärztliche Haltung. Ich habe ein dutzendmal zugesehen, wenn er hysterischen Waisenkindern dieselbe Behandlung angedeihen ließ. Und das war seit einer Woche das erstemal, daß wir mehr als

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