Lieber Frühling komm doch bald
senkrecht stand. Noch ein bißchen, und sie konnte sie fallen lassen, und der Mann würde von der Leiter stürzen.
Aber es war schon zu spät. Derek war oben und packte die Falltür, ehe sie ihn treffen konnte. Er ließ sie langsam herunter, und jetzt war sie geschlossen. Er richtete sich auf und starrte sein Opfer an. Hinter der schwarzen Nylonmaske verzog sich sein Gesicht zu einem triumphierenden Grinsen.
«Bitte!» flehte Julia. «Nein - bitte nicht!» Er griff nach ihr und verfehlte sie, und wieder begann sie, im Zickzack wegzurennen vor diesem unheimlichen Mann. Seine Hände griffen nach ihr, erwischten sie nicht, griffen von neuem zu. Seine Fingernägel schürften ihr die Haut auf. Nichts war zu hören als stampfende und fliehende Schritte, das Keuchen des Mannes und das angstvolle Wimmern und die verzweifelten erstickten Schreie des verfolgten Kindes.
An der Giebelseite des Heubodens befand sich eine Luke mit einer Winde darüber zum Heraufziehen und Hinunterlassen der Heuballen. Die Luke wurde gewöhnlich offen gelassen. Auch jetzt stand sie offen. Und da draußen war die helle warme Frühlingswelt. Die Abendsonne schien herein, und Julia taumelte ihr schluchzend und halb von Sinnen entgegen. Sie wußte, daß die Luke keine Tür war, daß sie ins Nichts führte. Sechs Meter tiefer lag das Feld...
Am Rand der Öffnung hielt sie inne, blickte hinunter, schrak zurück und wandte sich um.
Und da sah sie ihn. Die Strahlen der untergehenden Sonne zeig-ten ihr in allen Einzelheiten die Gestalt, die dort stand: die Stiefel, den in Leder gehüllten Körper, die herabhängenden Arme, die Hände, die zur Faust geballt waren, den durch die Strumpfmaske kahl wirkenden Kopf und das schwarz verhüllte, unheimlich leblose Gesicht.
Sekundenlang standen beide da und starrten einander an. Dann tat er langsam einen Schritt auf sie zu und hob den zweiten Fuß. Julia schlug die Hände vors Gesicht und trat einen Schritt zurück. Zu spät versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten. Mit einem hellen Schrei stürzte sie in die Tiefe. Derek trat an die Luke und blickte hinunter. Da unten lag sie, klein und ganz still. «O Gott!» sagte er. «O Gott.» Bloß weg hier. Er zitterte an allen Gliedern, als er zur Falltür zurücklief. Jetzt ganz ruhig bleiben, sagte er sich, das ist die Hauptsache. Schnell die Leiter hinunter, raus aus der Scheune, dann ganz ruhig das Motorrad aus dem Graben holen - und fort. Saß er erst auf seinem Feuerstuhl, würde er jeden umfahren, der ihn aufzuhalten versuchte.
Er bückte sich und packte die Falltür. Langsam kam sie hoch. Doch jetzt geschah etwas Merkwürdiges: Ein Schwall heißer Luft fuhr ihm ins Gesicht. Er erschrak. Er zog die Falltür noch etwas höher und spähte hinunter. Feuer! Die Zigarette, die er achtlos weggeworfen hatte! Die Flammen krochen wie Flutwellen über den Fußboden. Die Leiter, sein einziger Fluchtweg, war schon von ihnen eingeschlossen. Und während er noch hinunterblickte, schlugen die Flammen auch schon durch die geöffnete Falltür. «Hilfe!» schrie Derek entsetzt. «Hilfe! Hilfe!» Aber niemand kam herbeigelaufen. Wut und Angst packten ihn. Es mußte doch jemand kommen und ihn retten.
Aber niemand kam.
Jocelyn hielt die Hand seiner Frau und sagte leise: «Wie schön der Abend ist - fast unerträglich schön!»
«Ja, ich weiß, was du meinst», sagte sie und sah ihn lächelnd an.
Der alte Pentecost, der sonst nichts übrig hatte für Überschwenglichkeiten, gab seinem Sohn im stillen recht. Ja, dachte er bei sich, es ist etwas Wahres daran. Er goß sich noch einen Schuß Brandy in sein Glas.
«Horch mal», sagte May. «Da ruft doch jemand!»
Alle drei horchten. Was konnte es schon sein, an einem so friedlichen Abend? Vielleicht ein Mann, der seinen Hund rief, oder eine Frau, die ihre Hühner lockte.
Tiefe Stille. Eine sanfte abendliche Stille. «Ich hab nichts gehört», sagte Jocelyn.
«Hör mal», sagte May wieder. «Das war doch... das war eine Männerstimme!»
Wieder horchten sie und hörten nichts. Normalerweise wäre May aufgestanden und hätte überall nach dem Rechten gesehen. Aber der Tag war so vollkommen gewesen, und jetzt wollte sie nur ausruhen, ausruhen in diesem tiefblauen Abendfrieden.
Sie blieb noch eine Weile sitzen. Jocelyn goß May und auch sich selber noch einen Schluck Wein ein. Sie tranken einander zu, lächelnd und ohne Worte. Ein weicher Abend wind kam auf. Bald würde man hineingehen - zum Abendessen, zum Lampenlicht. Der
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