Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
zu konzentrieren – genau dem Krankheitsbild einer sogenannten manischen Phase. Das ist die wilde Seite der Meise. Während sie in einer depressiven Phase ganz still und ruhig ist und man nur antriebslos vor sich hin dämmert, flippt die Meise in der manischen Phase richtig aus. Ist schon komisch, wenn dir ein Arzt plötzlich erklärt, dass du dich so oder so verhältst, weil in deinem Gehirn diese oder jene Moleküle nicht richtig aufeinander eingestellt sind. Entscheide ich also gar nicht selbst? Das ist schwer vorstellbar. Wie eine Marionette, die mit den Armen und Beinen zuckt, wenn der Puppenspieler an den Fäden zieht. Bei mir hat meistens die Meise die Fäden in der Hand.
Glücklicherweise gab es dort in der Klinik eine sehr nette Meisendoktorin, Frau Irene von Weiter. Ich habe ihr erzählt, was in den letzten Wochen und Monaten alles passiert ist. Sie hat mir einen Aufenthalt in der offenen psychiatrischen Abteilung im Eppendorfer Krankenhaus empfohlen, dem Ort, an dem ich jetzt gelandet bin. Ich bin also auf dem richtigen Weg, auch wenn die Meise mich mal hierhin, mal dorthin reißt.
Manchmal erinnere ich mich zum Beispiel ganz plötzlich an eine Person oder ein Ereignis aus der Vergangenheit und habe das Gefühl, ich müsste etwas gutmachen. Etwas geradebiegen. Korrigieren. Und zwar sofort. Dann wünsche ich mir, ich könnte in die Vergangenheit reisen. Das ist ein vollkommen neues Gefühl, denn eigentlich möchte ich in meinem Leben nichts bereuen. Habe ich bisher auch nicht. Bis jetzt.
Aber natürlich findet man, wenn man mal genauer hinsieht, eine ganze Menge Dinge, die im Lauf der Zeit schiefgegangen sind. Große und kleine Sachen. Dass man mal gemein oder blöd war. Dass man jemandem sehr weh getan hat. Oder dass man einfach aus dem Leben eines anderen verschwunden ist, ohne sich richtig zu verabschieden. Einfach abgehauen ist. So war es zum Beispiel mit Sophie. Du hast sie einmal auf dem Spielplatz kennengelernt. Ist schon länger her. Wir haben zusammen Murmeln gespielt. Kannst Du Dich erinnern? Ich habe sie früher, bevor ich Mami getroffen habe, sehr liebgehabt. Irgendwann haben wir aber nur noch gestritten und ganz vergessen, dass wir uns eigentlich sehr lieben. Wir waren beide sehr unglücklich. Ich hatte gerade angefangen im Theater zu arbeiten und habe unheimlich viele neue Leute kennengelernt. Vor allem auch andere Frauen. Und die fand ich alle spannend, lustig und frei. Genau das Gegenteil der verklemmten Spaßverderber, mit denen ich groß geworden bin.
Habe ich Dir davon schon mal erzählt? Von Niendorf? Du warst selbst schon einmal dort. Im Niendorfer Gehege. In einem Vorort wie diesem herrscht eine ganz spezielle Stimmung, die ein Gefühl von heiler Welt vermittelt. Genau diese heile Welt suchen die Bewohner auch, sie bewahren sie mit ihren sorgfältig geharkten Gehwegen, dem fein gestutzten Rasen und den jahreszeitlich geschmückten Küchenfenstern. Weil sie aber in ihrem tiefsten Inneren ganz genau wissen, dass die Welt nicht so heil ist, wie sie sich das vorstellen, haben sie Angst. Angst davor, aus diesem Paradies vertrieben zu werden. Nicht mehr mitmachen zu dürfen. Und genau diese Angst richten die vermeintlich so freundlichen und gut erzogenen Menschen nun gegen alles, was sie nicht verstehen. Was ihnen fremd ist. Und das ist eine ganze Menge. Ich habe diese Angst immer sehr deutlich gespürt. Weil ich anders war, weil ich Veränderung wollte, Neues spannend fand. Sophie ging es genauso. Sie ist nur ein paar Straßen entfernt von mir groß geworden. Wir konnten beide nichts mit dieser »Als-ob-Welt« anfangen. Vielleicht hatten wir deshalb von Anfang an einen so starken und intensiven Draht zueinander, wie man das nur ganz selten im Leben erfährt.
Aber dann war da auf einmal Deine Mami. Wir haben uns das erste Mal auf einer Probe gesehen. Ich war Regieassistent, also der Gehilfe von dem, der alles bestimmt. Mami war Maskenbildnerin. Im alten Autokino in Billstedt sollte ein kleiner Film gedreht werden, ein Einspieler für das Stück Der Reigen von Arthur Schnitzler. Darin geht es passenderweise um Liebespaare, die immer von einem Partner zum nächsten wechseln.
Ich habe mich gleich in Ada verliebt. Kein Wunder. Sie wirkte bei der Arbeit wie ein absoluter Profi! Das konnte man sofort sehen. Und wunderschön war sie noch dazu. Kurz nach unserer ersten Begegnung hatte sie leider schon ihren letzten Arbeitstag, beziehungsweise ihre letzte Arbeitsnacht, weil sie ganz zum Film
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