Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
und sieht aus wie Schneewittchen. Haare schwarz wie Ebenholz, die Haut weiß wie Schnee und die Lippen rot wie Blut. Bei Maria sind sie allerdings geschminkt. Sie hat gleich mehrere Meisen, ist schon länger hier und wird bald in eine Kureinrichtung in der Lüneburger Heide wechseln. Eine Kur ist ein ganz besonderer Urlaub, der einem dabei hilft, wieder gesund zu werden. Je nachdem, was man hat, bekommt man gesundes Wasser zu trinken oder wird dick mit Schlamm eingepackt, muss spezielle Turnübungen machen oder, oder, oder. Bei chronisch Kranken, also bei Menschen, die dauerhaft krank sind, ist es gar nicht so einfach, die richtige Behandlung zu finden. Oder eben bei Menschen mit Meisen. Früher wurde so eine Kur von der Krankenkasse sehr schnell genehmigt, so dass fast jeder neben dem normalen Urlaub noch eine Kur machen durfte. Heute ist es schwieriger, eine Kur genehmigt zu bekommen, was auch daran liegt, dass die Menschen sich oft nicht an die Regeln zum Gesundwerden gehalten haben. Maria hat es aber nach langen Verhandlungen endlich geschafft. Sie ist glücklich darüber und wird sehr lange in dieser Einrichtung bleiben. Jahre vielleicht. Kannst Du Dir das vorstellen? Jahrelang in einem … na ja, nicht unbedingt Krankenhaus. Aber so ähnlich. Ich hätte Angst, dort nie wieder rauszukommen. Ihre Vorfreude darauf ist mir zwar fremd, gibt mir jedoch für meinen Weg Zuversicht. Dass ich im Theater arbeite, finden beide total spannend. »Passt auch«, meinen sie. »Hätte ich gleich sagen können, dass du was Kreatives machst. Nee, ehrlich.«
So wie die anderen Meisenprofis sich hier eingerichtet haben, für Wochen und Monate, das kann ich mir für mich überhaupt nicht vorstellen. Geht auch gar nicht. Bald muss ich schon in Essen sein, um die Gebrüder Löwenherz von Astrid Lindgren zu inszenieren. Dort werde ich mit Konstanze zusammenarbeiten. Das ist das erste Mal, dass ich mich auf die Zusammenarbeit mit einer Dramaturgin freue. Die nerven sonst regelmäßig. Konstanze ist nett. Sie kommt aus Wien und war dort am Burgtheater Assistentin. Das Burgtheater ist für Theaterleute in etwa das, was der Vatikan – da, wo der Papst wohnt – für die Katholiken ist. Ein imposantes Bauwerk. Ein Heiligtum. Ein Tempel. Ich habe Konstanze schon in Wien besucht, um mit ihr die Strichfassung zu machen. Dafür sind wir den Text Satz für Satz durchgegangen und haben entschieden, welche Teile wir für die Inszenierung verwenden. Das ganze Buch lässt sich ja nicht in zwei Stunden durchspielen, das geht nur in einer gekürzten Fassung. Während wir an der Strichfassung gearbeitet haben, haben wir auch schon überlegt, in welcher Szene die Schauspieler von wo auf-und abtreten und welche Probleme es geben könnte. Bei den Gebrüder Löwenherz ist beispielsweise die Schlussszene, in der der Drache seinen großen Auftritt hat, nicht ohne. Es ist nämlich gar nicht so einfach, einen großen, beweglichen und furchterregenden Drachen auf die Bühne zu bringen.
Weißt Du noch, dass ich Dich gefragt habe, was Du an einem Drachen am unheimlichsten findest? »Die Augen und das Feuer«, hast Du gesagt. Das habe ich mir gut gemerkt. Ich bin gespannt, wie Du ihn findest. Du solltest Dir das Stück unbedingt ansehen. Wenn ich mir vorstelle, dass Du unten im Zuschauerraum sitzt, vergesse ich meine Bedenken, dass ich eigentlich lieber ein Stück für Erwachsene gemacht hätte. Kinderstücke sind was Tolles. Aber die vermeintlich wichtigen Leute im Theater interessieren sich nicht dafür. Die tun zwar so als ob, nehmen das aber nicht ernst. Hauptsache, die Vorstellungen sind immer ausverkauft.
Das Burgtheater ist jedenfalls sehr beeindruckend. Es gibt sogar einen extra Eingang für den Kaiser. Die Kaiserstiege. Wenn man dort hinaufschreitet – anders geht das wegen des dicken roten Teppichs auf den Stufen auch gar nicht –, dann fühlt man sich tatsächlich wie ein Kaiser. Früher durfte dort nur der Herrscher mit seinem Gefolge hinaufgehen, aber weil es in Österreich keinen Kaiser mehr gibt, ist die Treppe heute für jeden offen. Konstanze hat mir alles gezeigt, und ich war schwer beeindruckt. Ich hatte mir gar nicht vorstellen können, dass es noch etwas Prachtvolleres als das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg geben könnte, das für einige Jahre ja so etwas wie mein Wohnzimmer gewesen ist. Ich habe damals quasi im Theater gelebt und bin nur zum Schlafen nach Hause gefahren. Ich hatte auch nur eine winzige Bude. Ohne Wohnzimmer. Mein
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