Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
breit. Die Schauspieler provoziert und beunruhigt das zunehmend. Es gibt immer mehr Gespräche mit der Dramaturgin. Heute auch mit dem Chefdramaturgen.
»Wir wollen dir doch alle nur helfen. Vielleicht müsstest du mal. Du solltest. Denkst du nicht? Die brauchen eben klare Ansagen. Die Bühne ist ja auch schwer.« Bla, bla, bla.
Das ist auch schon wieder so ein Mist: Die Behauptung, man sei als Regisseur dazu da, den Schauspielern alles vorzukauen. Klare Ansagen. Eine Haltung zu sich und seiner Figur bekommt ein Schauspieler aber nicht vom Regisseur. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sonst könnte man ja gleich Puppentheater machen. Der Fußballtrainer Felix Magath hat einmal gesagt, nur Spieler ohne Talent bräuchten Taktik. Das ist beim Theater genauso. Nur die Talentlosen brauchen eine Haltung, die ihnen der Chef vorgibt. Die Talentierten haben eine, entwickeln eine oder brauchen keine, weil sie auf der Bühne »sein« können. Wenn man diese Haltung hat oder nicht braucht, kann man sich überall vertreten. Vergiss den Raum. Aber zu solch einer klaren und radikalen Sprechweise bin ich zurzeit außerstande. Solche Gedanken zucken nur noch wie die Erinnerung einer Rechtfertigung durch meinen Kopf.
Alles rauscht an mir vorbei. Ich bin der Verschreckte mit den vollen Hosen. Ich sitze vor meinen Kritikern und lasse mich treffen. Ein Boxer ohne Verteidigung. Sie verlieren den Respekt. Sogar der Assistent wird immer frecher, aber selbst dagegen wehre ich mich nicht. Du würdest Dich schämen. Es ist mir unendlich unangenehm, aber ich kann es genauso wenig abstellen wie das Rasen der Meise zuvor. Ich tauge nicht mal mehr zur Eule. Ein fetter Puter bin ich. Unfähig zu fliegen. Mästen und schlachten. Keiner gibt mir den Gnadenschuss. Oder wenigstens eine Betäubung, um es nicht mit ansehen zu müssen. Aber nein. In allen Augen erkenne ich die Verzweiflung und die Wut. Wie bei Sein oder Nichtsein . Ich habe mich abgegeben, ich wünsche mir jemanden, der für mich entscheidet. An meiner statt.
Es ist schlimm. Ich schlafe mit offenen Augen. Es kommt einfach nichts an.
Meine Wohnung wird mir immer mehr zum Verlies. Seit ich die Tabletten nehme, trinke ich keinen Alkohol mehr. Das ist auch neu, aber nicht das Problem. Inszenieren ohne Alk. Ich rauche, trinke Cola light und abends alkoholfreies Bier. Davon bekomme ich Kopfschmerzen. Es ist nicht mal so, dass ich eifersüchtig auf die schaue, die weiter saufen. Keiner betrinkt sich in meiner Gegenwart. Es ist nur alles so ereignislos. Öde. Trist. Ich finde keinen Ausgleich. Komme nicht dagegen an.
Ich gehe laufen. Ich bin erschöpft, aber ich bin nicht eine Sekunde befreit von Zweifeln. Ich gehe mit Zweifeln ins Bett und stehe mit ihnen wieder auf. Eine nicht enden wollende Prüfung. Das Leben findet für mich statt wie hinter Glas. Langsam und leise. Für die anderen komischerweise nicht. Sie scheinen alle zu funktionieren. Einen Sinn darin zu sehen. Ich hingegen stolpere wie ein Statist durch ein Leben, das mir fremd ist. So, als sei es ihr Leben und nicht meins. Keiner sagt mir, was ich tun soll. Sie erwarten einfach, dass ich die Regeln kenne. Einfach funktioniere. So wie sie. Normal.
Ich frage Sonya: Ist so das normale Leben?
Sie guckt mich besorgt an.
Ich fürchte, ja.
Schweigen.
Das halte ich nicht aus.
ich schaffe nichts mehr. Mir ist auf der Probe wieder nichts eingefallen. Ich bin leer. Hohl. Alle. Kalt. Ich spüre nichts.
Außer Angst.
Stundenlang hocke ich vor der Probe in der Badewanne und lasse mir heißes Wasser über den Körper laufen. Das ist der einzig erträgliche Ort. Ich schleppe mich zur Probe. Mit wem sprechen die alle? Regen die sich jetzt auf? Über mich? Erwarten die das von mir auch? Soll ich jetzt grinsen? Oder etwa lachen? Das geht nicht. Ich kriege es nicht hin. Die Zeit will nicht vergehen. Endlich. Mittagessen. Aber da sitzen sie mir schon wieder alle gegenüber. Kriechen in mich hinein.
Ich lasse alles geschehen. Und sie sind noch mehr geworden. O Gott. Bitte nicht. Ich fliehe in das Münster mit der Beteuerung, noch mal über alles nachzudenken. Aber das geht doch nicht, dass die einzigen erträglichen fünf Minuten des Tages die sind, in denen ich andächtig in die vielen Kerzen schaue! Eine Kirche. Ich fliehe vor meiner Aufgabe in die Kirche! Auf die Kirchenbank. Schwach ausgeleuchtet durch ein paar flackernde Kerzen. Sehr wenig andere Trostsuchende.
Bis zur nächsten Probe. Bis sie mir wieder gegenübersitzen und mich
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