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Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Titel: Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Schloesser
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viel beigebracht, wie Du weißt. Vor allem, genau zu beobachten. Er war ein Meister der Beobachtung und hat bei jedem Spaziergang etwas Unerwartetes, Spannendes oder Lustiges entdeckt. Jedenfalls hat er mal zu mir gesagt, dass er Hamburg so liebe, weil es dort an jeder Ecke einen tröstlichen Ort gebe.
    Einer dieser Orte ist für mich das Folkwang Museum. Ich wohne ganz in der Nähe und kann mich gelegentlich dorthin flüchten, wenn mir mal wieder alles zu viel ist. Zur Mittagszeit ist das Museum besonders leer. Meist bin ich mit einer Aufsichtsperson allein in den Ausstellungsräumen. Es gibt viel zu sehen, aber ich gehe immer nur in die Horst-Janssen-Ausstellung. Das war ein norddeutscher Maler und Schriftsteller, den Dein Opa sehr verehrt und mit dessen Bildern ich groß geworden bin. Janssen hat sich mit Hingabe den Details gewidmet. In Essen hängen vor allem seine Selbstporträts. Dick und aufgedunsen vom Alkohol, schaut er mich über seinen Brillenrand hinweg an. Traurig. Unendlich traurig. Aber eben gerade dadurch schenkt er mir Trost. Vielleicht ist geteiltes Leid eben doch halbes Leid. Wenigstens für den Moment.
    Ich könnte den ganzen Tag im Museum verbringen, doch das geht nicht. Weil wir proben müssen. Kourosh hat mal gesagt, wenn die Schauspieler gut sind, dann müsse man nur aufpassen, dass sie nicht von der Bühne fallen. Meine Schauspieler haben Schwierigkeiten mit ihrer Rolle. Damit, dass sie nur Teil einer Geschichte für Kinder sind. Was haben sie erwartet? Was habe ich erwartet?
    Zwischen den Proben fliehe ich auch oft ins Münster, das sich nicht weit entfernt vom Grillo-Theater befindet. Es ist eine ganz besondere Kirche. Mitten in der Einkaufseinöde. Unbeeindruckt. Unbestechlich. Stolz. Umzingelt von Einkaufsläden wie ein störrischer Eingeborener. Diese Kirche ist ein Schutzraum für mich. Hierhin werde ich mich immer wieder zurückziehen. Müssen.
    Mein lieber Matz, ich würde gerne zuversichtlicher klingen, aber ich frage mich ständig, was ich hier eigentlich soll.
    Mach es besser.

die Proben machen mich fertig. Großes Ensemble. Alle vom Haus. Bis auf die Musiker und zwei Schauspieler. Richtig interessiert mich nur einer. Ein ganz junger Kollege aus dem Ensemble. Der trägt den Zauber im Herzen. Am liebsten würde ich mich mit ihm verbarrikadieren und an einem langen Monolog arbeiten. Stattdessen sitzt mir Tag für Tag ein Haufen Leute gegenüber, die beschäftigt und gelobt werden wollen. Das wollen wir alle, fällt mir aber wahnsinnig schwer. Denn ich weiß gar nicht, wofür.
    Auch mit dem Bühnenbild habe ich wieder Schwierigkeiten. Es engt die Phantasie ein. Ich lasse am liebsten ganz ohne Kulissen spielen. Nur der leere Bühnenraum in seinen natürlichen Begrenzungen als Schauplatz des Stückes. So wie er ist. Nackt und schwarz. Dass an einem solchen Ort ein ganzes Stück gespielt werden kann, ist den meisten unbegreiflich. Besonders hilflos sind die Schauspieler, weil sie noch mehr leisten müssen: Sie müssen auch noch den Ort mitspielen. Mitdenken. Vielen wird das erst am Ende klar.
    Nun. Ich bin selber schuld. Wie so oft habe ich gedacht, dass ein Kinderstück ein phantasievolles Bühnenbild braucht. Punkt. Jetzt ist mir das aber alles zu viel. Hinzu kommt, dass wochenlang nur in Markierungen geprobt wird. Als-ob-Kulissen. Das macht mich nicht nur wahnsinnig, sondern das enttäuscht mich auch maßlos. Es ist nicht zu ändern, und es ist dumm, sich darüber zu ärgern, aber – es sind Anzeichen dafür, dass es für mich nicht mehr stimmt.
    In Berlin habe ich das erste Mal überlegt, alles hinzuschmeißen. Den Beruf zu wechseln. Zu studieren. Ich wüsste auch schon, was. Rechtswissenschaft.
    Das kann sich auch keiner vorstellen. Ist mir egal. Es geht mir genau um diesen großen Abstand zum Theater. Um die Nüchternheit. Um Objektivität. Eine ganz eigene Sprache. Sichtbare Regeln. Der Gedanke an einen Neuanfang lässt mich lächeln.
    So in etwa.
    Grüße,

hast Du Dein Puzzle geschafft? 250 Teile finde ich echt schwer. Ich stehe hier vor einem lebenden Puzzle. Ich kriege mich und die anderen kaum noch zusammen. Ich fange schon an, ihnen aus dem Weg zu gehen. Mit jeder Stunde fällt es mir schwerer, mich für sie zu interessieren. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil es nicht geht. Ich bin leer. Benutzt, ausgebeutet, abgeerntet. Es ist mir kaum noch möglich ein Interesse, geschweige denn einen Plan vorzugaukeln. Insofern macht sich mein Felix-Krull-Gefühl wieder

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