Lieber Onkel Ömer
»EG-Ausländer«, »Kanake«, »Asylant«,»Scheinasylant«,»Wirtschaftsflüchtling«,»Mitbürger«,
»Zuwanderer«, »Migrant«, »Schmarotzer«, »Parasit |236| «. Die neueste Version finde ich wirklich klasse: »Ausländischer Mitbürger mit Migrationshintergrund« heiße ich momentan im
Behördendeutsch.
Mit diesen ganzen Bezeichnungen kommen ja nicht mal die Erwachsenen klar, wie sollen das denn die kleinen Kinder begreifen,
frage ich Dich?
Meine Tochter Hatice fragte mich letztens mit großen Augen:
»Papa, sind wir nun Ausländer, Gastarbeiter, Migranten, Muslims, Multikultis, Mitbürger, Leitkultur, Kanaken, Islamisten,
Terroristen oder Deutschlinge?«
»Also Hatice, Deutschling bist du doch nur in der Türkei«, antwortete ich und hoffte sie aus ihrem Begriffsdschungel einigermaßen
zu befreien.
»In der Türkei sind wir nur Touristen, hast du mal gesagt, Papa«, konterte sie.
»Ja, Hatice, aber in der Türkei machen sie daraus kein so großes Problem, da ist es eigentlich egal, was man ist«, habe ich
ihr gesagt. »Dort ist man viel toleranter, selbst Kurden und Armenier werden dort kurzerhand zu Türken erklärt, ob sie wollen
oder nicht. Sogar die ganzen deutschen Rentner, die nach Antalya oder Alanya ausgewandert sind, haben sie dort sofort eingetürkt!
Jeder Hans heißt jetzt Hanzo, und die ganzen Helgas nennen sie Hülya. Aber hier in Deutschland bleiben wir selbst mit einem
deutschen Pass immer Ausländer, Gastarbeiter oder Migranten – das kannst du dir aussuchen. Auch nach vier Generationen!«
Lieber Onkel Ömer, da fällt mir gerade ein, dass Du doch weißt, was Integration ist. Letztes Jahr im Sommer hast Du mir doch
gesagt:
|237| »Osman, wir haben hier große Probleme mit Hayri, Hayriye, Remzi und Remziye, also mit den vier Kindern von Rüstem, der mit
seiner gesamten Familie für immer aus Deutschland in unser Dorf zurückgekehrt ist. Diese Kinder können sich überhaupt nicht
benehmen, sprechen nicht mal Türkisch, und selbst Rüstem kapiert unsere Sitten nicht mehr! Aber wir geben uns mit denen trotzdem
große Mühe. Die Kinder sagen inzwischen nicht mehr ständig ›Fak ju, Alta, verpiss dich‹, sondern küssen stattdessen respektvoll
den Erwachsenen die Hände. Und dem Rüstem habe ich auch schon alle unsere neuen Kartenspieltricks beigebracht.«
Das, was ihr so toll mit Rüstem und seinen Kindern im Dorf geschafft habt, das würde man hier in Alamanya »eine gelungene
Integration« nennen. Beide Seiten müssen nämlich aufeinander zugehen. Das habt ihr getan, weil ihr die neuen Deutschlinge
gern habt. Aber der Grund, aus dem sich die deutschen Politiker immer vor den Wahlen plötzlich an die Migranten erinnern und
unsere Integration fordern, ist ein anderer: Die rechten Parteien tun das, um die Stimmen von einfältigen Wählern zu gewinnen,
und die Sozialdemokraten tun es aus purer Verzweiflung, weil der Wahlkampf für sie ohne uns total langweilig wäre!
Hier wird sonst monatelang ernsthaft darüber diskutiert, ob man wegen dem Umweltschutz die Getränkeflaschen überall in jedem
Geschäft zurückgeben darf oder nur bei einigen bestimmten oder ob das Arbeitslosengeld bei Hartz-IV-Empfängern um 0,11 oder
um 0,15 Prozent erhöht werden sollte und ob der Zivildienst nur um drei oder gleich um vier Wochen verkürzt wird.
|238| In der Türkei beschäftigt sich kein Mensch mit solch lächerlichem Kinderkram!
Umweltschutz – was ist denn das? Mit leeren Flaschen belästigt man dort grundsätzlich keine Geschäftsinhaber, sondern ausschließlich
die Natur. Am besten mit ein bisschen Benzin drin, damit auch die letzten Wälder abgefackelt werden und reichlich Platz für
Betonburgen entstehen kann. Arbeitslosengeld erhöhen oder Zivildienst verkürzen? Wen interessiert denn so was? Mit so einer
Lappalie beschäftigt sich kein großer türkischer Politiker. Deshalb gibt es dort weder Arbeitslosengeld noch Zivildienst.
In der Türkei geht es immer um alles oder nichts – um Leben oder Tod! Um Kommunismus oder Faschismus! Marschieren die Russen
oder die Amis ein? Wird die Türkei Iran oder Irak? Kommen Mullahs oder Generäle an die Macht?
In Deutschland befürchten die Menschen nur, dass Angela Merkel wieder mal ein Kleid mit einem sehr tiefen Dekolletee anziehen
könnte.
Und nun haben die deutschen Politiker vor den letzten Wahlen das kluge Wort Integration entdeckt. Du musst zugeben, dass es
doch viel interessanter
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