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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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Verletzungen noch länger bleiben. Also lag ich Tag für Tag auf dieser Station und sah die Familien kommen, die ihre Angehörigen besuchten. Manche sahen dabei richtig glücklich aus, andere waren ziemlich bedrückt; ich ahnte, dass sie später ein Grab besuchen würden. Und dann gab es noch eine dritte Art Besucher, das waren vielleicht die unglücklichsten von allen, denn sie besuchten niemand Bestimmten. Sie suchten nach einem Angehörigen, der auf der Vermisstenliste stand. Sie kamen wie die Gespenster außerhalb der normalen Besuchszeiten, und sie starrten uns Frauen so durchdringend an, als wollten sie unsere Gesichter in das eines ihrer Lieben verwandeln. Selbst mit all den Schmerzmitteln musste ich da immer weinen, Osama. Ich hätte alles darum gegeben, wenigstens eine Sekunde lang so auszusehen wie die Vermisste, nur um ihnen ein kleines bisschen Hoffnung zu machen.
    Nach wer weiß wie langer Zeit hörten die Ärzte auf, den Kopf zu schütteln, wenn sie sich über meine Krankenkarte am Fußende des Bettes beugten, und nickten auf einmal. Sie schauten mir in Ohren und Hals. Sie setzten die Beruhigungsmittel ab, und ich fragte sie nach meinen Männern, wobei sich herausstellte, dass auch sie noch vermisst wurden. Das war ein Glück; ich konnte es kaum erwarten, wieder so weit auf den Damm zu kommen, dass ich all die anderen Stationen und Krankenhäuser nach ihnen absuchen konnte. Ganz gleich, wie lange es dauern würde, ich wusste, ich würde sie finden.
    Am Tag, als sie mir sagten, mein Mann und mein Sohn seien mit Gewissheit tot, besuchte Prince William die Station. Die Krankenschwestern waren ganz aus dem Häuschen und wechselten schleunigst unsere Bettwäsche. Männer in Anzügen kamen mit Spiegeln an Stäben und suchten unter den Betten nach Bomben. Ein Fotograf hielt mir ein seltsames Ding unter die Nase.
    - Was ist das?
    - Ein Belichtungsmesser, sagte er. Sie sind zu blass.
    - Mein Mann und mein Junge werden vermisst. Da wären Sie auch blass.
    Aber der Fotograf hörte gar nicht hin.
    - Kannst du die hier bitte etwas schminken?, sagte er.
    Ein langbeiniges Mädchen trat zu mir. Sie hatte einen länglichen Plastikkoffer dabei, so ähnlich wie die Box, in der mein Mann sein Angelzeug aufbewahrte. Den stellte sie auf mein Bett und machte ihn auf. Es war ein ganzes Kosmetikstudio drin. Sie legte etwas Grundierung auf, dann machte sie mir die Augen und die Lippen.
    - Na bitte, sagte sie. Sehr hübsch. Richtig königlich.
    Nun seilten sich draußen zwei Männer an der Fassade ab und putzten die Fenster so blitzblank, dass man sie fast nicht mehr sah. Ein Arzt rollte ein paar große, blitzende Apparate mit jeder Menge blinkender Lämpchen in den Saal. Neben jedem Bett stellte er eines auf. Als er den Stecker neben meinem Bett in die Dose steckte, stützte ich mich auf den Ellbogen auf, um es mir anzusehen. Der Arzt zwinkerte mir zu.
    - Wozu ist das gut?
    - Damit zeigen wir, dass unser Nationaler Gesundheitsdienst den Anforderungen des 20sten Jahrhunderts voll und ganz gerecht wird.
    - Wollen Sie mich da etwa anschließen?
    - Nein. Es sei denn, Sie wünschen sich ein Nierenversagen. Das ist eine Dialysemaschine.
    Der Arzt nickte mir zu und ging weiter, um die nächste Maschine anzuschließen. Die Krankenschwestern drehten mittlerweile komplett am Rad und verschwanden eine nach der anderen im Zimmer der Nachtwache, um sich zu stylen. Dabei vergaßen sie glatt unsere Schmerzmittel. 4 Polizisten in Uniform kamen auf die Station und stellten sich an die Türen. Kleine Spiralkabel steckten in ihren Ohren. Ihre Augen waren überall, und es wurde ganz still. Von da an warteten wir alle nur noch auf Prince William. Doch dann kam eine Frau. Vor aller Augen ging sie direkt auf mein Bett zu. Die Frau war aber weder Ärztin noch Schwester. Sie trug ein ganz normales Tweedkostüm, und schon das machte mich fickrig. Sie zog den Vorhang um mein Bett.
    - Hallo, sagte sie.
    - Aber warum machen Sie denn den Vorhang zu?
    - Nun ja, ich habe leider keine guten Neuigkeiten für Sie und dachte, Sie möchten lieber ungestört sein.
    - Es geht um meinen Mann und meinen Jungen, nicht? Haben Sie rausgefunden, in welchem Krankenhaus sie liegen?
    Die Frau schüttelte den Kopf. Sie war so zwischen 50 und 60 und sah aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen.
    - Sie sind in keinem Krankenhaus, sagte sie.
    - Na gut, aber wo dann? Ich bin schon fast wieder gesund und werde bald entlassen. Mein Junge vermisst mich bestimmt, ich wette, er

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