Lieber Osama
mehrmals mit dem Finger, um mich aufzuwecken.
- Kopf hoch, sagte er. Es kann nur besser werden.
Er setzte sich mit seinem Guinness vor mich an den Tisch und schob mir meinen Drink zu.
- Hier, bitte, sagte er. Auf glücklichere Zeiten.
Ich lächelte, aber es war ein nervöses Lächeln. Wäre dieses Lächeln ein Kind gewesen, dann eins von den Sorgenkindern, die man immer im Fernsehen sieht: ein armes Würmchen mit allerlei Schläuchen im Leib, die zu einer Dialysemaschine führen. DIE KLEINE KELLY (5) GIBT NICHT AUF. Terence Butcher sah mich scharf an und nahm einen Schluck von seinem Bier.
- Und? Wie schmeckt das Guinness, Sir?
Er lehnte sich zurück, umfasste sein Glas mit beiden Händen und verzog verärgert das Gesicht.
- Hör zu, sagte er. Wenn du mich noch ein einziges Mal Sir nennst, versetze ich dich zur Bahnpolizei. Dann verbringst du die nächsten fünf Jahre damit, dicken Kindern zu sagen, sie sollen keine Chipstüten auf die Gleise der Docklands Railway werfen. Wenn du diese Tätigkeit zur Zufriedenheit erfüllst, wirst du irgendwann zur District oder Circle Line versetzt. Nach weiteren fünfzehn bis zwanzig Jahren erlösen sie dich vom Nacht dienst, und mit ein bisschen Glück darfst du sogar Tageslicht sehen, etwa auf so tollen oberirdischen Bahnhöfen wie Gunnersbury oder Chiswick Park.
Ich trank einen großen Schluck von meinem Gin Tonic, und er explodierte in meinem Magen.
- Also ab in die Unterwelt? Ist das auch dem Mädchen passiert, mit dem du deine letzte Affäre hattest?
Er antwortete nicht sofort, sondern trank zunächst sein Guinness aus. Über den Rand des Glases hinweg beobachteten mich dabei seine Augen. Sorgsam stellte er es dann ab und wischte sich den Schaum von der Oberlippe.
- Haben wir denn eine Affäre?, sagte er.
- Noch nicht. Keine richtige jedenfalls.
Ich schob meine Hand über den Tisch, bis sich unsere Fingerspitzen berührten. Terence Butcher blickte im Raum umher für den Fall, dass jemand zusah. Dann ließ er seinen Kopf fast bis auf den Tisch sinken, hob ihn wieder und sah mich an.
- Hättest du denn gern eine?, sagte er.
Ich antwortete nicht, sondern schob meine Hand weiter nach vorn, bis unsere Finger ineinander glitten. Zwar zog er seine Hand nicht zurück, erwiderte aber auch den Druck nicht, wie er gekonnt hätte.
- Nun?, fragte er.
- Gott, musst du eigentlich immer den Bullen raushängen lassen?
- Wie?, sagte er. Wie meinst du das?
- Dieses Schwarzweißdenken. Bei dir ist alles schwarz oder weiß. Entweder wir haben eine Affäre, oder wir haben keine.
- Stimmt, sagte er. Ich möchte wissen, woran ich bin. Das Leben ist auch so schon kompliziert genug.
- Ich mag dich, Terence Butcher. Manchmal, wenn ich einsam bin, stelle ich mir vor, was für ein guter Mensch du bist. Und dass du mich verstehst.
Er grinste.
- Na großartig, sagte er. Jetzt haben wir doch eine Affäre. Ich zuckte nur die Achseln. Manchmal war er ein echter Kindskopf.
- Gut, sagte ich. Oder vielmehr: Nein, überhaupt nicht gut. Es würde auch nicht funktionieren. Wenn du erst mal merkst, wie ich zurzeit drauf bin, willst du mich sowieso nicht mehr.
Er schüttelte den Kopf.
- Quatsch, sagte er. Jetzt trink erst mal, dann geht’s dir schon besser.
Ich klammerte mich an mein Glas und versuchte, die Stimme meines Jungen aus meinem Kopf zu kriegen, die singsangte: NUR EIN PAAR DRINKS! WAS IST SCHON DABEI? BEI MAMI GANZ NORMAL.
- Du hast Recht, ich hör ja schon auf.
- Na siehst du, sagte Terence Butcher. Braves Mädchen.
Er beugte sich über den Tisch, streichelte mit beiden Händen mein Gesicht und schob mir die Haare hinter die Ohren, so wie früher meine Mom immer. Er wusste wohl selbst nicht, wie lieb das jetzt war. Ich sah von meinem Glas hoch und konnte nicht anders als lächeln. Und dann hatte ich auf einmal Tränen in den Augen. Er kam noch ein Stück näher und wischte mit dem Daumen die Tränen weg.
- Nicht doch, sagte er. Du bist viel zu hübsch für Tränen.
Ich beugte mich vor und küsste ihn unwillkürlich auf die Lippen. Ich saugte an seiner Oberlippe und atmete seinen Geruch aus Ziggen und Guinness ein. Er selbst war wie erstarrt. Ich zog mich wieder zurück und sah ihn an.
- Noch eins?
- Mmm?, sagte er.
- Noch ein Guinness?
- Oh, sagte er. Ja. Ja bitte.
Lächelnd nahm ich die leeren Gläser und ging damit zur Bar, wo mich beinahe der Schlag traf! Denn dort saß Jasper ganz allein vor einem Glas Rotwein. Er guckte zwar nicht in meine Richtung, aber an der
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