Lieber Osama
und das Boot schaukelte. Sie rutschte ganz nah an mich heran. Ihre Augen blitzten.
- Zieh doch zu uns, sagte sie.
-Was?
- Zieh eine Weile bei uns ein. Mach mal Urlaub von dieser deprimierenden Wohnung und den schrecklichen Erinnerungen. Bei uns kannst du dich erholen.
- Erholen? Mit dir?
- Ja, sagte Petra. Es wird uns allen gut tun, vor allem Jasper. Es könnte ihn von der Kokserei abbringen.
- Das ist nicht dein Ernst. Letzte Woche hast du noch mit Sachen nach mir geschmissen.
Petra errötete und blickte auf den See hinaus.
- Ja, aber das war, bevor ich dich in dem Hermes-Outfit gesehen habe, sagte sie.
- Du bist verrückt.
- Überhaupt nicht, sagte Petra. Und wenn schon. Seit dem 1. Mai ist die ganze Welt verrückt geworden, warum also darf ich nicht auch ein bisschen spinnen? Wo bleibt der Spaß, wenn der ganze Planet dem Wahnsinn verfällt, und nur ich darf es nicht?
Ich schaute übers Wasser. In den anderen Booten saßen ganz normale Leute und taten ganz normale Sachen. Jugendliche knutschten in ihren Rettungswesten. Väter brachten ihren Söhnen das Rudern bei. Alle lachten, hatten fröhliche Mienen und ihre Sonnenbrillen aufgesetzt. Aber ich war nicht mehr wie sie. Ich hatte keinen Jungen mehr, dem ich das Rudern beibringen konnte, nur einen komischen Typen, dem ich das Koksen abgewöhnen sollte, das ist ein Unterschied. Leise fing ich an zu weinen. Die Tränen kullerten von meinen Wangen in den See.
- Es geht nicht, Petra. Sobald ich Jasper auch nur sehe, sehe ich diese Explosion. Immer und immer wieder.
- Mag sein, sagte Petra. Aber sag mir, was siehst du, wenn du allein zu Hause sitzt? Ehrlich.
Ich sah sie an. In meinem Magen rumorte es. Ich wünschte, alles wäre vorbei. Ich wünschte, ich wäre ganz weit weg in einem Wohnwagen und die Sonne ginge gerade auf. Ich wünschte, ich hätte mich nie mit Terence Butcher gestritten.
- Das ist nicht fair.
Petra strich mit den Fingerspitzen über meine Tränen und steckte sie dann in den Mund, um sie abzulecken.
- Dann sei tapfer.
Unser Boot trieb in den Schatten eines Sperrballons. Ohne die Sonne war es plötzlich kalt. Ich zitterte. Das Sushi haben wir übrigens nie gegessen. Wieso auch? Sushi ist doch nichts als Algen und roher Thunfisch, also weniger ein richtiges Essen als ein missratener Fischzug. Petra verfütterte ihres an die Tauben, und ich schmiss meins einfach ins Wasser. Ich weinte und sah die weißen Reisröllchen im schlammig-braunen Wasser versinken. Ich dachte, Welten entfernt, an Bomben.
Bevor du meinen Jungen in die Luft gejagt hast, Osama, glaubte ich immer, das mit so einer Explosion ginge ganz fix, aber das weiß ich jetzt besser. Der Blitz ist schnell vorbei, aber das Feuer frisst sich in dich rein, und der Lärm hört nie auf Du kannst dir die Ohren zuhalten, wie du willst, aber der Lärm bleibt. Das Feuer tobt weiter mit wütender Macht und unvorstellbarem Getöse. Und das Seltsamste: Die Leute, die neben dir in der U-Bahn sitzen, kriegen nicht das Mindeste davon mit. Ich lebe in einem Inferno, in dem man vor Kälte zittert, Osama. Dieses Leben ist ein einziges ohrenbetäubendes Gebrüll, aber hör doch: die Stecknadel.
L IEBER O SAMA , ich hätte Petra Sutherland sein können.
Ich schaute in mein Spiegelbild über Petras Schminktisch. Ich trug ihr Lychee Glossy Gloss von Sisley auf, drückte die Lippen zusammen: mmm, mmm. Ich sagte, ich bin Petra Sutherland. Ich brauchte nicht zu arbeiten, wenn ich nicht meinen absoluten Traumjob hätte. Ich kann verdammt nochmal tun und lassen, was ich will.
Ich schaute mich an und überlegte, welche Ohrringe zu diesen Lippen passten. Ich sah auf die Uhr. Es war 7:45. Ich hatte noch eine Stunde Zeit, ehe ich losmusste zu Scotland Yard. Ich machte die Schublade auf und nahm Petras Perlenohrringe heraus. Ich steckte sie mir an, und sie fühlten sich perfekt an und schön schwer. Ich drehte den Kopf zur Seite, und die Ohrringe folgten wie gut erzogenes Geld.
Ich hob das Kinn – genau wie sie immer. Fast war ich so weit. Nur noch die Augen, und ich war sie. Draußen war es noch halb dunkel, und der Regen trommelte an die Scheibe. Ich nahm ihre Mascara. False Lash Effect von Yves Saint-Laurent. Das kam in einem hübschen schlanken Goldfläschchen und lag so kalt und schwer in der Hand wie der Lauf des Gewehrs, das die Attentäter in Agentenfilmen immer zusammenschrauben müssen. Ich trug es auf meine Wimpern auf und plinkerte mit den Augen. Mein Herz raste. Ich war sie.
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