Lieber Osama
achtete, konnte man meinen, die Lage würde sich langsam normalisieren. Jedenfalls sprachen die Leute nicht mehr so oft vom 1. Mai. Es war, als hätte der Regen die Erinnerung daran mitsamt den Kippen und platt gefahrenen Kastanien in den Gully gespült.
- Ach, komm, sagte Terence Butcher. Schau mich nicht so an. Das geht jetzt schon seit Wochen so. Kannst du mir denn nie verzeihen?
- Kommt drauf an. Kannst du mir meinen Mann und meinen Jungen zurückbringen?
Ich knallte die Teetasse auf seinen Schreibtisch. Tee schwappte auf seine Akten, aber das war mir egal. Ich dachte: Terence Butcher, das hättest du dir früher überlegen sollen. Etwa als du meine Jungs verbrennen ließest.
- Ich habe getan, was ich für das Beste hielt, sagte Terence. Ich dachte, das verstehst du.
- Sicher, aber das Beste war eben nicht das Beste. Das hättest du mir übrigens von Anfang an sagen sollen, dann wäre es zwischen uns niemals so weit gekommen. Ich hätte mich niemals von dir anfassen lassen. Du solltest dich schämen.
- Aber ich schäme mich nicht, sagte er. Es war schön.
Er fuhr auf seinem Chefsessel herum und sah zu mir hoch. Ich stand immer noch vor dem Schreibtisch und zitterte am ganzen Leib. Er lächelte traurig.
- Nein, versteh doch, sagte er. Kampfesmüder Polizist begegnet schöner Frau. Aber was weiß ich denn schon von Schönheit?
Ich antwortete nicht, Osama. Ich meine, viel mehr als er wissen wir doch auch nicht davon.
- Aber du musst zugeben, dass es schön war, sagte Terence. Da oben allein in den Wolken. Nur du und ich, und alles andere war so unwichtig, mein Beruf, Tessa, der 1. Mai, London. Es war einfach nur schön.
- Es war eine Lüge.
- Ja, sagte Terence. Deshalb habe ich es dir ja gesagt. Ich wollte nicht, dass diese Lüge zwischen uns steht. Nicht wenn wir eine echte Beziehung haben wollen.
- Ach Terence, das kannst du vergessen. Nicht nach dem, was du meinen Jungs angetan hast, das musste dir doch klar sein. Ich meine, du kannst doch nicht ausgerechnet mit mir eine Beziehung anfangen, was denkst du dir eigentlich?
- Ja, tut mir leid, sagte er. Ich weiß, ich weiß. Ich war völlig übernächtigt, das alles ist rational nicht zu erklären. Ich dachte nur, wenn wir uns wirklich lieben, reicht das.
- Lieben? Du sprichst von lieben?
- Ja, tut mir leid. Aber so habe ich empfunden.
Ich sah ihm ins Gesicht. Seine Augen waren von genau demselben Grau wie die Wolken hinter ihm, sodass es aussah, als hätte ihm jemand zwei Löcher in den Kopf geschossen.
- Jetzt pass mal gut auf, Terence Butcher. Ich mache dir deinen Tee, und ich mache hier die Büroarbeit, aber das ist alles, okay? Verwechsle das nicht mit Liebe.
Er sah mich lange an, ehe er den Blick senkte und auf den Schreibtisch schaute. Der Schreibtisch war leer bis auf die 3 Telefone. Das Foto von seiner Frau und den Kindern war verschwunden. Aber vielleicht stand es jetzt auf dem Nachttisch im Travelodge.
D ER N ACHMITTAG wurde dann noch sehr lang. Um Punkt 5 zog ich meinen Anorak an und ging durch die Dämmerung nach Hause. In England wird es an einem bedeckten Herbsttag schon gegen 4 Uhr dunkel. Ein paar Wochen davon, Osama, und ich garantiere dir, du bist so weit, dich umzubringen. So manches arme Schwein in diesem Land tut das auch. Ich schwör dir, das englische Wetter hat mehr Leute umgebracht als du. Zehn graue Oktobertage, Osama, und an deiner Kalaschnikoff nagt der Rost, die Sandalen rotten dir unter den Füßen weg, und der Hausarzt setzt dich auf Prozac. Vielleicht hasst du uns dann ja nicht mehr ganz so sehr, sondern empfindest eher Mitleid mit uns.
Als ich zu Hause ankam, war wieder mal der Strom weg, also nahm ich mir ein paar Kerzen mit ins Bad, ließ Wasser ein, legte mich in die Wanne und unterhielt mich mit meinem Jungen, bis das Wasser kalt war und es Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Mein Junge saß immer gern auf dem Wannenrand, am liebsten vorn am Wasserhahn. Dabei ließ er die Füße ins Wasser baumeln, und dann konnten wir zwei richtig gut reden.
Ich stieg aus der Wanne und nahm meinen rosa Bademantel, der nach wie vor neben dem schwarzen von meinem Mann hing. Den hatte ich noch immer nicht entsorgt, irgendwie ist ja nie der richtige Zeitpunkt dazu. Ich zog meinen Bademantel an und wickelte ein Handtuch um meinen Kopf. Mein Junge folgte mir in die Küche und hinterließ nasse Kleine-Jungs-Fußtapser auf dem Linoleum. In der Küche quatschten wir noch ein bisschen weiter, während ich mir zusammen mit den neuen
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