Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
Nationalität angegeben wird, gefolgt von einem Fragezeichen: »Franzose?«, und dahinter mit Ausrufezeichen: »Nein, Jude!«
500.000 Eintrittskarten zu dieser Ausstellung wurden verkauft, und wenn man die ermäßigten Karten mitrechnet, haben eine Million Menschen die Ausstellung in Paris gesehen, bevor sie als Wanderausstellung nach Bordeaux, Nancy, Marseille, Nizza, Cannes, Toulouse und Lyon ging – also auch in die sogenannte »freie« Zone. Ob die Leute sie erbaut und überzeugt verließen oder empört und angeekelt, ist nicht überliefert.
In den Büros der Rue La Boétie 21 verkehrten merkwürdige Individuen. Ein berühmter Besucher beschwerte sich sogar, dort nicht ausreichend repräsentiert zu sein. Am 21. Oktober 1941 erhielt Sézille einen Protestbrief von Louis-Ferdinand Céline,der sich »bekümmert« zeigte, dass »in der Buchhandlung [der Ausstellung] weder
Bagatelles [pour un massacre]
noch
L’École [des cadavres]
zu finden sind, dagegen favorisiert man einen Haufen kleiner Bocksbärte, Kümmerlinge der vierzehnten Stunde (…) Wieder einmal stelle ich hier (an diesem so besonders sensiblen Ort) den entsetzlichen Mangel an arischer Intelligenz und Solidarität fest. Eine ins Absurde getriebene Demonstration.« Betreten antwortete Sézille drei Tage später: »Ich bin selbst untröstlich, dass es uns nicht gelungen ist, trotz all unserer Nachfragen bei den Verlegern die Werke zu beschaffen, von denen Sie schreiben und die, wie ich weiß, am besten geeignet sind, den antijüdischen Kampf zu führen. Doch ich möchte Ihnen versichern, dass wir in unserer Buchhandlung schon eine große Anzahl von
Beaux Draps
und
Mea Culpa
verkauft haben und weiter täglich nach diesen beiden Werken gefragt werden. Ich bitte Sie zu glauben, dass wir stets unser Möglichstes getan haben und weiter tun werden, um Ihre Werke zu verbreiten und ihnen den Platz zu geben, den sie verdienen.«[ 17 ]
Wer war dieser Hauptmann Paul Sézille, der das Glück hatte, am 20. April 1944 zu sterben, vier Monate vor der Befreiung von Paris? Welcher Hass, welche Verblendung, welche Verbitterung trieb ihn dazu, diesen schändlichen Verein zu leiten und seine unsäglichen Schriften herauszugeben? Als meine Großeltern nach der Befreiung zurückkehrten, entdeckten sie im Keller des Hauses entsetzt die unglaubliche Schriftenproduktion des Instituts, die noch in großen Kisten herumstand. Damals sprach man noch nicht von der »Pflicht zur Erinnerung«,und statt sie zu archivieren, befreiten sie sich umgehend von dieser Bibliothek der Schande, als hätten sie sich die Finger daran verbrannt.
Nur ein Buch von Hauptmann Sézille persönlich blieb übrig, dessen Werke einst die Wände im Untergeschoss der Rue La Boétie bedeckten, ich habe es lange aufgehoben. Im Lauf der verschiedenen Umzüge der Familien Rosenberg und Sinclair ist das literarische Werk – und damit die Spur – des finsteren Hauptmanns dann verloren gegangen …
Bei der jahrelangen Renovierung der Galerie, die erst 1934 beendet war, hatte Paul Rosenberg Picasso um einen Entwurf für Marmorelemente gebeten, die in den Fußboden eingelassen werden sollen, um ihm eine besondere Note zu geben. Im August 1928 gab er ihm viele Pläne und mahnte den Entwurf an. Aber da Picasso nie pünktlich war und sich bei Auftragsarbeiten immer lange Zeit ließ, bat Paul schließlich Georges Braque darum. Braque ließ in allen vier Ecken der Galerie rechteckige Marmormosaiken in den Boden einfügen, genaue Kopien von vier seiner bekannten lebensgroßen Stillleben mit Krügen, Tellern, Zitronen, Gedecken und Tischtüchern. Es war schon nicht mehr die Zeit des Kubismus mit seinen Grau-, Grün- und Brauntönen, der ewigen Gitarre und dem »Journal«, als Braque und Picasso Bilder malten, die sich so sehr glichen, dass die beiden oft zum Spaß und weil sie selbst nicht mehr genau wussten, wer welches gemalt hatte, das Werk des anderen signierten. Die Stillleben, von denen ich spreche, sind heller und bunter, sie eignen sich besser für die Kunst des Mosaiks und erinnern an die Fußböden in den römischen Patrizierhäusern in Pompeji oder Volubilis.
Als mein Großvater nach dem Krieg das Haus verkaufte, in dem er nicht mehr wohnen wollte, ließ er die vier Marmorplatten von Braque herausschneiden und in schwarzen Marmor gefasst zu niedrigen Tischen umarbeiten. Meine ganze Jugendzeit hindurch standen zwei dieser Tische in der Wohnung meiner Mutter. Oft, wenn ich mit den Fingern über den Marmor
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