Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
komme am Flughafen Bordeaux-Mérignac an und überquere auf der Fahrt nach Floirac den Fluss.
Ich suche die Route de la Tresne, die auf den Lebensmittel marken der Familie steht. Die Straße ist seitdem wahrscheinlichmehrmals umbenannt worden. Seit die Stadt sozialistisch regiert ist, heißt sie Avenue du Président-François-Mitterrand. Natürlich.
Ich finde das Castel, das Nachkriegsberichten zufolge in den Monaten nach dem Waffenstillstand mit stillschweigendem Einverständnis der Ledoux geplündert worden war.
Mitten auf dem frisch gemähten Rasen steht eine jahrhundertealte Zeder. Unter diesem Baum haben sich im Mai 1940 Henri Matisse und Paul Rosenberg über die Natur und ihre Darstellung in der Malerei unterhalten. Massiv, harmonisch, beruhigend steht er da, von dem Orkan 1999 kaum mehr gezeichnet als von der deutschen Invasion. Der Park ist gepflegt, das Haus stark gealtert. Es ist ein merkwürdiges Gebäude, reizvoll und hässlich zugleich. Im 19. Jahrhundert als Kopie einer Burg gebaut, hat es alle entsprechenden Attribute: Bergfried, Bruchsteine, Rosetten an den Fassaden, grimassierende Wasserspeier, die es zu einer Art von Gespenstern bewohntem
Wuthering Heights
machen.
Ich stoße die Tür aus Glas und Schmiedeeisen auf. Der Vorraum ist offensichtlich unverändert und hat sich dank des großen Spiegels, den Spuren des Alters zum Trotz, eine gewisse Eleganz bewahrt. Die altersschwache, wurmstichige Treppe ist mit Staub bedeckt. Ich steige die knarrenden Stufen hinauf und klingle im ersten Stock. Ein alter Herr, ein von der Stadtverwaltung hier einquartierter Rathausangestellter, öffnet erstaunt und lässt mich in eine Drei- oder Vierzimmerwohnung eintreten, wo sich wahrscheinlich früher die Schlafzimmer und das Esszimmer des Kastells befanden. Ein Speisenaufzug ist noch zu sehen.
Er hört sich meine etwas verworrene Rede an (»meine Familie hat bis Juni 1940 hier gewohnt, ich würde gern die unterenRäume sehen«) und ruft im Rathaus an. Zwei Stellvertreter der Bürgermeisterin kommen und schließen mir liebenswürdig die untere Tür auf.
Ein Teil des Hauses ist seither unverändert geblieben; den anderen haben offensichtlich in den darauffolgenden Jahrzehnten die Ledoux angebaut. Mithilfe der im Haus gestohlenen Beute, wie böse Zungen nach dem Krieg unterstellten?
Trotz des pompösen Namens »Castel« ist das Haus nicht sehr groß, nur der Park ist eindrucksvoll. Ich besichtige das Ganze und hebe mir den Salon bis zum Schluss auf.
Die Küchenräume liegen im Untergeschoss, wie in all diesen Häusern, die sich wohlhabende Bürger aus Bordeaux Ende des 19. Jahrhunderts im höher gelegenen Ortsteil von Floirac bauen ließen. Die Küche stammt aus den Dreißiger- oder Vierzigerjahren, die Wasserleitungen sind verrostet, »der Strom ist von den deutschen Besatzern installiert worden«, wird mir erklärt – als meine Familie dort wohnte, gab es also noch keinen –, und die Anrichte dient als Abstellkammer für die Mineralwasserflaschen bei künftigen privaten oder öffentlichen Feierlichkeiten.
Die Rosenbergs blieben hier bis Juni 1940, als sie sich überstürzt zur Flucht aus Frankreich entschlossen. Trotz allem hellsichtig (obwohl er doch auf die Maginot-Linie vertraute?), ließ mein Großvater Dutzende seiner Bilder kommen, zum einen, weil es ihm jedes Mal das Herz zerriss, wenn er sich von ihnen trennen musste, aber auch, weil er sie weit weg von Paris in Sicherheit glaubte. Er mietete einen Tresorraum bei der BNCI (Banque nationale pour le commerce et l’industrie) in Libourne, die nach dem Krieg verstaatlicht und zur Banque nationale de Paris (BNP) wurde.
Hundertzweiundsechzig Bilder wurden dort eingelagert, dar unter ein Selbstbildnis von van Gogh, Gemälde von Cézanne, Delacroix, Léger, Matisse, Sisley, Picasso, Vuillard, Utrillo, Corot, Monet und Braque. Sie wurden am 5. September 1941, als die Nazis den Safe Nr. 7 öffnen ließen, gestohlen und ins Musée du Jeu de Paume geschickt. Göring brauchte sich nur noch zu bedienen.
Die Rosenbergs verbrachten den Winter 1940 in Floirac. Die Zeit schien stillzustehen.
Braque kam zu Besuch. Vom Beginn der Feindseligkeiten verstört und unglücklich, konnte er sich kaum noch zum Malen aufraffen. Im Oktober 1939 schrieb er Paul: »Ich habe ein paar Bilder angefangen, aber die plötzlichen Turbulenzen haben alles zum Erliegen gebracht. Seit einem Monat habe ich nicht mehr gemalt. Ich bildhauere, was mir sehr gefällt. Eine Athletenarbeit, denn
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