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Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)

Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)

Titel: Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Sinclair
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fuhr nicht nach Paris. Der Brief ist am 4. April 1940 geschrieben. Der deutsche Durchbruch bei Sedan stand kurz bevor.
    Eine renommierte Zeitschrift in Sydney,
Art in Australia,
bat André Breton 1941 um einen Artikel über die Schriftsteller, die in Frankreich geblieben waren. Paul Rosenberg sollte über das Leben seiner Lieblingsmaler unter der Besatzung schreiben. In seinem Artikel erzählte Paul von einem Besuch Matisses in Floirac, kurz vor dem deutschen Einmarsch. Ihre Unterhaltung, ein paar Wochen vor dem Debakel, wirkt irreal.
    Wie gewöhnlich sprachen sie über Kunst und Malerei und betrachteten die Knospen und ersten Blüten in diesem Frühjahr 1940. Matisse geriet über die gelben und weißen Margeriten in Entzücken, die aus dem Rasen einen schöneren Teppich machten als die schönsten Wandbehänge aus dem 14. Jahrhundert! »So etwas müssen wir schaffen«, sagte der Maler der Farbe. »Nach diesem frischen, leuchtenden Eindruck suche ich in meinen Bildern. Solche Harmonien legt uns die Natur nahe, aber wir sind nicht dazu verpflichtet, sie genauso wiederzugeben.«[ 5 ] Das war im Mai 1940 …
    Picasso schließlich war in Royan, nicht weit von Floirac.
    Mein Großvater und er schrieben sich, telefonierten und sahen sich weiterhin. Der Rest der Familie Rosenberg kam aus Paris, in dem ohnehin schon vollen Castel wurde es noch enger. Paul bot auch den Matisses an, sie aufzunehmen, aber es gab kein freies Bett oder Sofa mehr.
    Am 11., 12. und 13. Juni fand im Salon ein dramatischer Familienrat statt.
    Siebzig Jahre später, an einem Septembernachmittag des Jahres 2010, stehe ich im selben Raum, mit demselben Kamin, denselben Schränken und demselben Kronleuchter, und habe das Gefühl, eine Gespensterszene zu sehen. Ich stelle mir den Abend vor, dicht aneinandergerückte Stühle und Sessel, die Kinder auf dem Parkettboden, die halb gepackten Koffer in einer Ecke. Ich höre die Seufzer, das Flüstern, die Ängste, die Gewissheiten, die Beklemmungen all derer, die hier sind, hier waren, in diesen Junitagen 1940 hier kampierten.
    Für die meisten französischen Familien stellte sich die Frage, Frankreich zu verlassen, gar nicht, in einigen jedoch, jüdischen vor allem, die in Grenznähe lebten und wussten, dass die Deutschen sie suchten, wurde diskutiert: ins Exil gehen oder weitermachen wie zuvor?
    »Eine gewisse Zahl von Franzosen und in Frankreich lebenden Ausländern war wegen des Vichy-Regimes besorgt oder befürchtete, bald unerwünscht zu sein, und entschloss sich zur Flucht. Die war sehr oft nur das kleinere Übel. Aber angesichts des beklemmenden Gefühls, dass sich die Schlinge immer enger zusammenzog, erschien sie auch den Zögerlichsten angebracht. Die erste Judenverordnung wurde im Oktober 1940 erlassen, aber der Ausschluss im großen Stil begannschon im Juli. Die Zeit wurde also knapp. Wie David Rousset später mit schwarzem Humor sagte, würde es aus Frankreich und sogar Europa bald nur noch zwei Ausgänge geben: Marseille und Auschwitz.«[ 6 ] Man könnte noch Bordeaux hinzufügen.
    Jacques Helft, der Schwager meines Großvaters, plädierte energisch für die Flucht, über Spanien nach Portugal. Meine Großmutter war sehr zögerlich. Paul war hin- und hergerissen.
    Anscheinend hat sich jeder von seinem Temperament leiten lassen. Das Dilemma der Familien, schreibt Emmanuelle Loyer, bestand letztlich in »der heiklen Abwägung des Trennungsschmerzes gegen die möglicherweise dramatischen Folgen trotzigen Bleibens«. Als Beispiel zitiert sie einen Brief von Marc Bloch[ 7 ] vom Mai 1941, der die Zerrissenheit des Historikers zeigt, denn angesichts der »Widerstände des US-amerikanischen Außenministeriums und aus familiären Gründen (…) mag sich im Verfasser von
L’Étrange défaite
nach und nach der Gedanke gefestigt haben, dass er seinem Land am besten dienen könne, wenn er blieb«. Marc Bloch wurde 1944 von den Deutschen erschossen.
    Zunächst musste das Problem der Pässe gelöst werden. Für die Familie Rosenberg wurden siebzehn gebraucht, damit Eltern, Großeltern, Kinder, Brüder, Schwestern und Neffen aus Frankreich ausreisen konnten.
    Marianne, die jüngste Schwester meiner Großmutter Margot,hatte eine Jugendfreundin, deren Mann, der mit der französischen Regierung nach Bordeaux geflohen war, Sekretär von Albert Lebrun war, dem Präsidenten einer Republik, die ihrer Macht und ihres Territoriums beraubt war, glücklicherweise aber noch Pässe stempeln konnte. Und der portugiesische

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