Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
zu deren Entdeckung ich mich aufgemacht habe?
1 Diesen Stempel erhielten alle von den Nationalsozialisten gestohlenen Werke, die zurückerstattet worden waren und in den nationalen Museen aufbewahrt werden, solange die rechtmäßigen Besitzer nicht identifiziert sind.
2 Französischer Maler, Zeitgenosse von Braque und Juan Gris, dessen erste Ausstellung 1921 in der Galerie Paul Rosenberg stattfand.
GENNEVILLIERS
Z UERST ALLE ORTE AUFSUCHEN , an denen Familienerinnerungen aufbewahrt sind. Also das Möbellager, in das ich die meisten Papiere und Fotos gebracht habe, die ich auf die Schnelle in der Wohnung meiner Mutter zusammengerafft hatte. Eiseskälte in der Halle in Gennevilliers, in die der Spediteur die Rollcontainer bringt und in meiner Gegenwart öffnet.
Warum habe ich den Eindruck, in einer Leichenhalle zu sein? Warum habe ich das Gefühl, in Gräbern zu wühlen, obwohl ich dieses Gefühl nicht hatte, als ich die Schränke meiner Mutter ausräumte?
Schnell, sehr schnell gehe ich wieder, mit zwei großen Kartons im Kofferraum, die ich aus den fünf- oder sechsundzwanzig in Gennevilliers untergestellten ausgesucht habe. Die nächsten zwei Nächte verbringe ich damit, die Briefe und Fotos zu sichten.
Die Kartons enthalten sämtliche Papiere von
France Forever,
dessen Generalsekretärin meine Mutter war. Diese Organisation in den USA hatte sich zum Ziel gesetzt, die Amerikaner über die Arbeit der Résistance und von France Libre[ 1 ] zuinformieren. 1940–41, bevor Roosevelt in den Krieg eintrat, musste man den Amerikanern beweisen, dass die Franzosen Unterstützung verdienten, dass sie nicht bloß ein Volk waren, das vor dem Besatzer kuschte, wie man in den Sechziger- und Siebzigerjahren gern behauptete. Emmanuelle Loyer beschreibt
France Forever
als »von einer Gruppe in den USA lebender Franzosen gegründete Vereinigung, die das Ziel hatte, ›eine Welle der Sympathie und konkreten Hilfe für France libre auszulösen‹«.[ 2 ]
Ich packe die Reliquien aus, Zeichen einer versunkenen Welt: ein Lothringerkreuz, ein Foto von General de Gaulle mit Widmung für meine Mutter Micheline Rosenberg, getreulich aufbewahrt auch noch von der leidenschaftlichen Antigaullistin, die sie 1958 geworden war. Und die Sammlung der Publikationen von
France Forever,
von meiner Mutter geschrieben und gelayoutet.
Ich habe ein schlechtes Gewissen. Sie hätte sich so sehr gewünscht, dass ich mich zu ihren Lebzeiten mit »ihrem« Krieg beschäftige, der letztlich nicht weniger nobel war als der vieler Emigranten! Doch ich hatte diesen Kampf immer albern gefunden. Als Teenager hatte ich ihr eines schwarzen Tages sogar gesagt, dass Roosevelt wegen Pearl Harbour, ganz sicher nicht dank
France Forever
in den Krieg eingetreten ist. Das war nicht falsch, aber es war dumm und grausam, ihr Engagement und ihre Arbeit um jeden Preis herabwürdigen zu wollen und ihr die im Schatten gebliebenen Helden vorzuhalten, die in Kiew und in den Wüstenschlachten gekämpft hatten.
Für meine Mutter waren die Kriegsjahre in New York, soschockierend das klingen mag, wahrscheinlich vor allem spannend. Vielleicht nicht die glücklichsten ihres Lebens, aber sicher die erfülltesten. Wahrscheinlich weil sie die einzigen waren, in denen sie eine Aufgabe hatte, der sie sich voll und ganz, mit viel Talent und Fantasie widmete.
In den Kartons findet sich eine Fülle von Notizen, Plänen und Arbeiten. Warum hat sich eine intelligente Frau später in das konventionelle Leben als Ehefrau und Mutter einsperren lassen, ohne außerhalb nach frischer Luft und Freunden zu suchen, die sie den ganzen Rest ihres Lebens vermisste? Diese Vergeudung erschien der jungen Frau, die ich in den Siebziger- und Achtzigerjahren war, altmodisch. Für mich wie für meine Altersgenossinnen, die versuchten, alle Aufgaben eines Frauenlebens miteinander zu vereinbaren oder vielmehr zu addieren, kam es gar nicht infrage, ihrem Beispiel zu folgen.
Außer diesen Entwürfen, Broschurumschlägen mit Trikolore-Kokarden und Lothringerkreuzen und Leitartikeln, in denen detailliert die ideologischen Unterschiede zwischen General de Gaulle und General Giraud (den die Amerikaner hätschelten, weil sie dem Chef von France libre nicht über den Weg trauten) erläutert wurden, stieß ich auf einen Wust von Papieren und Briefen.
Bis spät in der Nacht sortierte ich den Papierberg: wild durcheinander Heizungsrechnungen für das Haus in Floirac zu Beginn des Krieges, Lebensmittelmarken aus
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