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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Wurzel groß genug wurde, um gegessen zu werden.
    Es war wohl einfach nicht jeder Augenblick des Tages mit Aufgaben angefüllt, wie in den Sommern davor und danach.
    Vielleicht lag es also daran, dass ich begann, Schwierigkeiten mit dem Einschlafen zu haben. Anfangs, meine ich mich zu erinnern, hieß das, bis gegen Mitternacht wach zu liegen und mich zu wundern, wie hellwach ich war, während alle anderen im Haus schliefen. Da hatte ich schon gelesen, war wie üblich müde geworden, hatte meine Lampe ausgemacht und gewartet. Niemand hatte mir da wie sonst zugerufen, das Licht auszumachen und zu schlafen. Zum allerersten Mal (und auch das ein Zeichen von meinem Sonderstatus) blieb es mir überlassen, darüber selbst zu entscheiden.
    Es dauerte eine Weile, bis sich das Haus nach dem Licht des Tages und dem Licht der Lampen, die bis spät abends brannten, verwandelte. Nachdem es den Lärmpegel der Dinge, die getan, aufgehängt, beendet werden mussten, hinter sich gelassen hatte, wurde es zu einem fremderen Ort, an dem die Menschen und die Arbeit, die ihr Leben bestimmte, ihr Gebrauch von allem um sie herum, in den Hintergrund traten, an dem alle Möbel sich in sich selbst zurückzogen und nicht mehr aufgrund von jemandes Aufmerksamkeit existierten.
    Man könnte denken, das war eine Befreiung. Anfangs war es das vielleicht. Die Freiheit. Die Fremdheit. Aber als meine Schwierigkeiten mit dem Einschlafen andauerten und sich schließlich bis zur Morgendämmerung hinzogen, verstörte mich das mehr und mehr. Ich fing an, Verse aufzusagen, dann ganze Gedichte, anfangs um zur Ruhe zu kommen, aber dann kaum noch aus eigenem Willen. Die Beschäftigung schien mich zu verhöhnen. Ich verhöhnte mich selbst, da die Worte ins Absurde abglitten, in sinnloses Wortgeklingel.
    Ich war nicht mehr ich selbst.
    Ich hatte hin und wieder gehört, wie das von jemandem gesagt wurde, mein Leben lang, ohne darüber nachzudenken, was das bedeuten konnte.
    Was meinst du denn, wer du bist?
    Auch das hatte ich gehört, ohne damit eine konkrete Bedrohung zu verbinden, ich nahm es nur für eine übliche Herabsetzung.
    Denk mal drüber nach.
    Inzwischen ging es mir nicht mehr darum, Schlaf zu finden. Ich wusste, Schlaf war unwahrscheinlich. Vielleicht nicht einmal wünschenswert. Etwas ergriff von mir Besitz, und es war meine Aufgabe, meine Hoffnung, es abzuwehren. Ich war so vernünftig, das zu tun, aber ohne, dass es mir ganz gelang. Was immer es war, es versuchte mir einzuflüstern, Dinge zu tun, nicht aus einem bestimmten Grund, sondern einfach, um zu sehen, ob solche Taten möglich waren. Es ließ mich wissen, dass man keine Motive brauchte.
    Man brauchte nur nachzugeben. Wie seltsam. Nicht aus Rache oder aus irgendeinem normalen Grund, sondern nur, weil man an so etwas gedacht hatte.
    Und ich dachte daran. Je öfter ich den Gedanken fortscheuchte, desto öfter kehrte er zurück. Keine Rachsucht, kein Hass – wie gesagt, kein Grund, außer dass so etwas wie ein unsagbar kalter und tiefer Gedanke, der kaum ein Drang, eher eine Überlegung war, von mir Besitz ergreifen konnte. Ich durfte überhaupt nicht daran denken, aber ich dachte natürlich doch daran.
    Der Gedanke war da und blieb mir im Sinn.
    Der Gedanke, dass ich meine kleine Schwester erwürgen konnte, die in dem Bett unter mir lag und schlief und die ich mehr liebte als sonst jemanden auf der Welt.
    Falls ich es tat, dann nicht aus Eifersucht, Bösartigkeit oder Groll, sondern wegen des Wahnsinns, der nachts direkt neben mir liegen mochte. Auch kein rasender Wahnsinn, sondern etwas, das fast Neckerei sein konnte. Eine träge, neckende, halb unterschwellige Eingebung, die schon lange gewartet zu haben schien.
    Vielleicht sagte sie, warum nicht? Warum nicht das Schlimmste ausprobieren?
    Das Schlimmste. Hier, am vertrautesten Ort, dem Zimmer, in dem wir unser Leben lang gelegen und uns am sichersten gefühlt hatten. Falls ich es tat, dann vielleicht nicht aus einem Grund, den ich oder irgendjemand anders verstand, sondern weil ich nicht anders konnte.
    Was mir blieb, das war, aufzustehen und mich aus diesem Zimmer und dem Haus zu entfernen. Ich kletterte die Leiter hinunter und warf keinen einzigen Blick auf meine schlafende Schwester. Dann leise die Treppe hinunter, ohne dass jemand sich rührte, in die Küche, wo mir alles so vertraut war, dass ich meinen Weg im Dunkeln fand. Die Küchentür war nicht abgeschlossen – ich bin nicht mal sicher, dass wir einen Schlüssel besaßen. Ein

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