Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
vermuten, dass es gutartig war oder gründlich entfernt wurde, denn sonst wäre ich heute nicht hier. Und ich denke so selten daran, dass ich mein Leben lang, wenn ich aufgefordert worden bin, meine Operationen anzugeben, automatisch nur sage oder schreibe: »Blinddarm«.
Dieses Gespräch mit meiner Mutter fand wahrscheinlich in den Osterferien statt, als alle Schneestürme und Schneehaufen verschwunden waren und die Bäche Hochwasser führten und alles mit sich rissen, was sie erreichen konnten, und der Sommer mit seiner gnadenlosen Sonne kurz bevorstand. Unser Klima kannte keine Schonzeiten, keine Gnade.
In der Hitze der ersten Junihälfte war ich mit der Schule fertig, da meine Zensuren gut genug waren, um mich von den Abschlussprüfungen zu befreien. Ich sah gesund aus, ich erledigte alle meine häuslichen Pflichten, ich las Bücher wie üblich, niemand ahnte, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war.
Jetzt muss ich die Schlafgelegenheiten in dem Zimmer beschreiben, das ich mir mit meiner Schwester teilte. Es war ein kleines Zimmer, das für zwei Einzelbetten nebeneinander nicht genug Platz bot, also war die Lösung ein Etagenbett mit fester Leiter, damit eine von beiden in das obere Bett klettern konnte. Das war ich. Als ich jünger war und zu Hänseleien neigte, zog ich immer die Ecke meiner dünnen Matratze hoch und drohte meiner kleinen Schwester, die hilflos im Bett darunter lag, sie zu bespucken. Natürlich war meine Schwester – sie hieß Catherine – nicht völlig hilflos. Sie konnte sich unter ihrer Decke verstecken, aber mein Trick war, so lange zu warten, bis Atemnot oder Neugier sie unter der Decke hervortrieb, um ihr in diesem Moment ins Gesicht zu spucken oder erfolgreich so zu tun als ob, was sie wütend machte.
Ich war zu alt für solche Spielchen, inzwischen bestimmt zu alt. Meine Schwester war neun, als ich vierzehn war. Die Beziehung zwischen uns blieb immer ungeklärt. Wenn ich sie nicht quälte und auf irgendeine schwachsinnige Art piesackte, übernahm ich die Rolle der weltklugen Beraterin oder der Erzählerin von haarsträubenden Geschichten. Ich zog ihr welche von den alten Sachen an, die in der Aussteuertruhe meiner Mutter gelandet waren, weil sie zu fein waren, um für Quilts zerschnitten zu werden, und zu altmodisch, um von irgendjemandem getragen zu werden. Ich tat ihr das alte, vertrocknete Rouge und den Puder meiner Mutter aufs Gesicht und sagte ihr, wie hübsch sie aussah. Sie war hübsch, kein Zweifel, obwohl sie mit meiner Gesichtsbemalung aussah wie eine fratzenhafte exotische Puppe.
Ich will damit nicht sagen, dass sie ganz unter meiner Fuchtel stand oder auch nur, dass ihr Leben ständig mit meinem verflochten war. Sie hatte ihre eigenen Freundinnen, ihre eigenen Spiele. Letztere neigten eher zu Häuslichkeit als zu aufgeputzter Angeberei. Puppen wurden in ihrem Kinderwagen ausgefahren, oder kleine Katzen wurden angezogen und statt der Puppen spazieren gefahren, trotz ihrer heftigen Fluchtversuche. Es gab auch längere Spiele, in denen eine die Lehrerin war und den anderen wegen diverser Verstöße und Dummheiten Schläge auf die Handgelenke versetzen durfte, damit die so tun konnten, als ob sie weinten.
Im Juni, wie gesagt, hatte ich keine Schule und war mir selbst überlassen, ein Zustand, den es nach meiner Erinnerung so zu keiner anderen Zeit meines Heranwachsens gab. Ich erledigte einiges im Haushalt, aber meiner Mutter muss es damals noch gut genug gegangen sein, um mit dem meisten selbst fertig zu werden. Oder vielleicht hatten wir zu der Zeit genug Geld für – wie meine Mutter sagte – ein Dienstmädchen, obwohl alle anderen von einer Haushaltshilfe sprachen. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ich all die Aufgaben angehen musste, die sich in späteren Sommern für mich aufhäuften, als ich bereitwillig darum kämpfte, die Ordnung in unserem Hausstand aufrechtzuerhalten. Offenbar galt ich durch das mysteriöse Putenei als schonungsbedürftig, so dass ich einen Teil meiner Zeit damit verbringen durfte, herumzulungern wie eine Besucherin.
Allerdings nicht damit, irgendwelchen besonderen Steckenpferden nachzugehen. Niemandem in unserer Familie wäre das nachgesehen worden. Es war alles innerlich – diese Nutzlosigkeit und diese Fremdheit, die ich empfand. Und auch keine fortwährende Nutzlosigkeit. Ich erinnere mich, dass ich mich hinhockte, um die Mohrrübenpflänzchen auszudünnen, wie man es in jedem Frühjahr tun musste, damit die
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