Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
ersten Septemberwoche etwas verblasst, als sie sagte, sie müsse jetzt zu Hause bleiben und ihre Eltern versorgen, weshalb sie nicht mehr bei uns arbeiten könne.
    Und dann fand meine Mutter heraus, dass sie in der Molkerei arbeitete.
    Wenn ich doch einmal an sie dachte, stellte ich lange Zeit nicht in Frage, was mir meiner Meinung nach gezeigt worden war. Noch lange hinterher, als ich mich überhaupt nicht für übernatürliche Phänomene interessierte, war ich überzeugt, dass etwas geschehen war. Ich glaubte es einfach, so, wie man glaubt und sich sogar daran erinnern kann, dass man früher einmal einen anderen Satz Zähne hatte, der inzwischen verschwunden ist, aber trotzdem real war. Bis ich eines Tages, als ich vielleicht schon elf oder zwölf Jahre alt war, mit einer Art von dunklem Loch in meinem Inneren wusste, dass ich jetzt nicht mehr daran glaubte.

Nacht
    I n meiner Jugend schien es nie eine Geburt, einen geplatzten Blinddarm oder irgendein anderes drastisches körperliches Ereignis zu geben, das nicht mitten in einem Schneesturm geschah. Und das hieß, die Straßen waren gesperrt, es war ohnehin nicht daran zu denken, das Auto auszugraben, und Pferde mussten angespannt werden, damit sie sich einen Weg in die Stadt zum Krankenhaus bahnten. Zum Glück waren noch Pferde da – normalerweise wären sie abgeschafft worden, aber der Krieg und die Benzinrationierung hatten das verhindert, wenigstens vorläufig.
    Als die Schmerzen in meinem Bauch einsetzten, mussten sie es deshalb um elf Uhr abends tun, und ein Schneesturm musste wüten, und da wir zu der Zeit keine Pferde im Stall hatten, musste das Gespann des Nachbarn beansprucht werden, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Eine Fahrt von nur anderthalb Meilen, aber trotzdem ein Abenteuer. Der Arzt wartete schon, und zu niemandes Überraschung machte er sich daran, meinen Blinddarm herauszunehmen.
    Mussten damals mehr Blinddärme herausgenommen werden als heute? Ich weiß, das es immer noch passiert und notwendig ist – ich weiß sogar von jemandem, der daran gestorben ist, weil es nicht rechtzeitig geschah –, aber in meiner Erinnerung war es so etwas wie ein Ritual, dem sich einige in meinem Alter unterziehen mussten, keineswegs in großer Zahl, aber nicht gänzlich unerwartet und vielleicht auch nicht ganz ungern, denn es bedeutete schulfrei, und es gab einem einen bestimmten Status – eine Sonderstellung, kurz gesagt, als jemand, der vom Flügel der Sterblichkeit gestreift worden war, und das zu einem Zeitpunkt im Leben, wo so etwas Anlass für Stolz sein konnte.
    So lag ich also, ohne meinen Blinddarm, einige Tage lang im Bett und schaute aus dem Krankenhausfenster zu, wie der Schnee melancholisch durch Nadelbäume trieb. Ich glaube nicht, dass mir je die Frage durch den Kopf ging, wie mein Vater diesen Luxus bezahlen sollte. (Soweit ich weiß, verkaufte er ein Waldstück, das er behalten hatte, als er die Farm seines Vaters veräußerte. Er hatte wohl gehofft, es zum Fallenstellen oder zum Gewinn von Ahornsirup zu nutzen, oder vielleicht hatte er einfach besonders daran gehangen.)
    Dann ging ich wieder zur Schule und genoss es, länger als notwendig vom Turnen befreit zu sein, und eines Sonntagmorgens, als ich mit meiner Mutter allein in der Küche war, erzählte sie mir, dass im Krankenhaus mein Blinddarm herausgenommen worden war, wie ich gedacht hatte, aber nicht nur der. Der Arzt hatte es bei dem Eingriff für richtig gehalten, auch den Blinddarm zu entfernen, aber das Wichtigste für ihn war ein Gewächs. Ein Gewächs, sagte meine Mutter, so groß wie ein Putenei.
    Aber mach dir keine Sorgen, sagte sie, jetzt ist es ja vorbei.
    Der Gedanke an Krebs kam mir überhaupt nicht in den Sinn, und sie erwähnte ihn mit keinem Wort. Ich glaube nicht, dass eine solche Eröffnung heute ohne Fragen abginge, ohne jede Erkundigung, ob es Krebs ist oder nicht. Bösartig oder gutartig – wir würden es sofort wissen wollen. Ich kann unsere Hemmungen, darüber zu sprechen, nur damit erklären, dass es um das Wort eine Wolke gegeben haben muss wie die Wolke um die Erwähnung von Sex. Schlimmer noch. Sex war ekelhaft, musste wohl aber auch Genuss verschaffen – was wir wussten, obwohl unsere Mütter das nicht ahnten –, während man schon allein bei dem Wort Krebs unweigerlich an ein dunkles, verfaulendes, übelriechendes Viech dachte, das man nicht einmal ansah, wenn man es wegstieß.
    Also stellte ich keine Fragen und bekam keine Antworten und kann nur

Weitere Kostenlose Bücher