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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Stuhl wurde unter den Türknauf geschoben, so dass jemand, der eindringen wollte, ziemlichen Lärm veranstalten musste. Eine langsame, vorsichtige Entfernung des Stuhls ließ sich geräuschlos bewerkstelligen.
    Nach der ersten Nacht war ich in der Lage, mich ohne Unterbrechung zu bewegen, so dass ich, wie es mir vorkam, innerhalb von wenigen reibungslosen Sekunden draußen sein konnte.
    Natürlich standen da keine Straßenlaternen – wir waren zu weit weg von der Stadt.
    Alles war größer. Die Bäume um das Haus wurden immer bei ihren Namen genannt – die Buche, die Ulme, die Eiche, nur die Ahornbäume wurden immer im Plural genannt und nicht unterschieden, weil sie eng zusammen standen. Jetzt waren sie alle tiefschwarz. Ebenso der weiße Fliederbaum (inzwischen ohne Blüten) und der violette Fliederbaum – sie wurden Bäume und nicht Sträucher genannt, weil sie zu groß geworden waren.
    Die Grasflächen vor, hinter und zu beiden Seiten des Hauses bereiteten keine Schwierigkeiten, denn ich hatte sie selbst gemäht aus dem Bestreben, uns eine städtische Wohlanständigkeit zu geben.
    Von der Ostseite unseres Hauses und der Westseite blickte man auf zwei verschiedene Welten, oder so kam es mir vor. Die Ostseite war die Stadtseite, obwohl man die Stadt gar nicht sehen konnte. Weniger als zwei Meilen entfernt standen Häuser Seite an Seite mit fließendem Wasser und mit Straßenlaternen. Und obwohl ich gesagt habe, dass man nichts davon sehen konnte, bin ich nicht ganz sicher, ob man nicht einen hellen Schein wahrnehmen konnte, wenn man lange genug hinschaute.
    Nach Westen hin gab es nichts, was die lange Biegung des Flusses, die Felder, die Bäume und die Sonnenuntergänge unterbrach. Nichts, was in meiner Vorstellung mit Menschen oder mit normalem Leben zu tun hatte.
    Ich ging auf und ab, anfangs dicht am Haus und dann, als ich mich auf meine Augen verlassen konnte und sicher war, nicht mehr mit dem Pumpenschwengel zusammenzustoßen oder mit dem Podest für die Wäscheleine, hierhin und dorthin. Die Vögel begannen sich zu regen und dann zu singen – als sei ein jeder ganz von sich aus auf die Idee gekommen, dort oben in den Bäumen. Sie wurden wesentlich früher wach, als ich für möglich gehalten hatte. Aber bald nach diesen allerersten Gesängen zeigte sich ein wenig Helligkeit am Himmel. Und plötzlich wurde ich von Schläfrigkeit überwältigt. Ich ging ins Haus zurück, wo auf einmal überall Dunkelheit war, ich klemmte sehr sorgfältig, behutsam und leise den Stuhl unter den Türknauf und ging ohne einen Laut hinauf, bewältigte Türen und Stufen mit der gebotenen Vorsicht, obwohl ich schon halb schlief. Ich fiel auf mein Kissen und wurde erst spät wach – spät, das war in unserem Haus gegen acht Uhr.
    Dann fiel mir wieder alles ein, aber es war so absurd – der schlimme Teil davon war wirklich so absurd –, dass ich es relativ leicht abschütteln konnte. Mein Bruder und meine Schwester waren schon fort zum Unterricht in der Grundschule, aber ihre Teller standen noch auf dem Tisch, ein bisschen Puffreis schwamm in der überschüssigen Milch.
    Absurd.
    Wenn meine Schwester von der Schule nach Hause kam, schaukelten wir zusammen in der Hängematte, sie am einen Ende, ich am anderen.
     
     
    In dieser Hängematte verbrachte ich einen großen Teil der Tage, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Und da ich nicht von meinen nächtlichen Schwierigkeiten sprach, erteilte mir niemand den simplen Rat, tagsüber mehr zu tun.
    Meine Schwierigkeiten kehrten natürlich am Abend zurück. Die Dämonen ergriffen wieder von mir Besitz. Ich war inzwischen so klug, bald aus meinem Bett zu klettern, ohne mir vorzumachen, dass es besser werden und ich einschlafen würde, wenn ich mir nur genug Mühe gab. Ich schlich mich so vorsichtig aus dem Haus wie zuvor. Allmählich fand ich mich besser zurecht, sogar das Innere der Räume wurde für mich sichtbarer und zugleich fremder. Ich konnte die hölzerne Küchendecke erkennen, eingebaut, als das Haus vor vielleicht hundert Jahren errichtet wurde, und den nördlichen Fensterrahmen, teilweise weggekaut von einem Hund, der hier eingesperrt worden war, in einer Nacht lange vor meiner Geburt. Mir fiel etwas ein, was ich völlig vergessen hatte – dass ich früher einen Sandkasten dort hatte, wo meine Mutter mich aus dem Nordfenster beobachten konnte. Ein großes Büschel wuchernder Spiräen blühte jetzt an dieser Stelle, so dass

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