Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
heraus.
Als ich von meiner kleinen Schwester sprach, sagte ich, dass ich Angst hatte, ihr weh zu tun. Ich glaubte, das wäre genug, er würde schon wissen, was ich meinte.
»Sie zu erwürgen«, sagte ich dann. Ich konnte mich doch nicht bremsen.
Jetzt konnte ich es nicht mehr ungesagt machen. Ich konnte nicht mehr zu der Person zurückkehren, die ich zuvor gewesen war.
Mein Vater hatte es gehört. Er hatte gehört, dass ich mich für fähig hielt, ohne Grund die kleine Catherine in ihrem Schlaf zu erwürgen.
Er sagte: »Tja.«
Dann sagte er, kein Grund zur Sorge. »Menschen haben manchmal solche Gedanken.«
Er sagte das ganz ernsthaft und ohne jede Beunruhigung, nicht erschrocken, auch nicht überrascht. Die Menschen haben solche Gedanken oder auch Ängste, wenn du so willst, aber das ist wirklich kein Grund zur Sorge, nicht mehr als ein Traum, denk ich mal.
Er sagte nicht ausdrücklich, es bestehe keine Gefahr, dass ich so etwas täte. Er schien es eher für selbstverständlich zu halten, dass so etwas nicht passieren konnte. Eine Nebenwirkung vom Äther. Der Äther, den sie dir im Krankenhaus gegeben haben. Hat nicht mehr Sinn als ein Traum. Es konnte nichts passieren, ebenso wenig, wie ein Meteor unser Haus treffen konnte (natürlich konnte er, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er es tat, verwies das in die Kategorie Unmöglich).
Er machte mir auch keine Vorwürfe, daran gedacht zu haben. Wundert mich nicht, so drückte er sich aus.
Er hätte noch anderes sagen können. Er hätte mich ausfragen können nach meiner Einstellung zu meiner kleinen Schwester oder nach meiner Unzufriedenheit mit meinem Leben ganz allgemein. Wenn das heute passiert wäre, hätte er für mich vielleicht einen Termin bei einem Psychiater gemacht. (Ich glaube, das hätte ich wohl für ein Kind getan, eine Generation und ein Einkommen später.)
Tatsächlich funktionierte das, was er tat, genauso gut. Es holte mich, und das ohne Spott oder Aufregung, herunter in die Welt, in der wir lebten.
Menschen haben Gedanken, die sie lieber nicht hätten. Das passiert im Leben.
Wenn man heutzutage als Mutter oder Vater lange genug lebt, entdeckt man, dass man Fehler gemacht hat, von denen man nie etwas wissen wollte, neben denen, von denen man nur zu gut weiß. Man wird im Grunde seines Herzens beschämt, widert sich manchmal selbst an. Ich glaube nicht, dass mein Vater je irgend so etwas empfand. Ich weiß allerdings, wenn ich ihn wegen seiner Bearbeitung meines Hinterteils mit dem Rasierstreichriemen oder seinem Gürtel je zur Rede gestellt hätte, er hätte wohl etwas in der Art von »So war’s eben« gesagt. Diese Züchtigungen wären ihm also, wenn überhaupt, nur als etwas im Gedächtnis geblieben, das notwendig und angemessen war, um ein vorlautes Kind zu bändigen, das sich einbildete, Herr im Haus spielen zu können.
»Du hast dich für oberschlau gehalten«, hätte er als Grund für die Bestrafungen angeben können, und das hörte man zu jener Zeit häufig, wobei diese freche Altklugheit als lästiger Kobold galt, der ausgeprügelt werden musste. Denn sonst bestand die Gefahr, dass er erwachsen wurde und sich weiter für besonders schlau hielt. Oder eben sie.
An jenem anbrechenden Morgen jedoch gab er mir nur das, was ich zu hören brauchte und was ich sogar bald danach vergaß.
Ich nehme an, dass er vielleicht seine bessere Arbeitskleidung trug, weil er am Morgen einen Termin bei der Bank hatte, um – nicht zu seiner Überraschung – zu erfahren, dass sein Kredit nicht verlängert worden war. Er hatte so hart gearbeitet, wie er nur konnte, aber der Markt richtete sich nicht nach ihm, und er musste einen neuen Weg finden, um uns zu ernähren und gleichzeitig unsere Schulden abzuzahlen. Oder er mag erfahren haben, dass es einen Namen für die Zitterigkeit meiner Mutter gab und dass sie nicht aufhören würde. Oder gemerkt haben, dass er eine unmögliche Frau liebte.
Wie auch immer. Von da an konnte ich schlafen.
Stimmen
A ls meine Mutter heranwuchs, ging sie zusammen mit ihrer ganzen Familie tanzen. Diese Tanzabende fanden in der Schule statt oder manchmal in einem Farmhaus mit einer guten Stube, die groß genug war. Jung und Alt fanden sich ein. Jemand spielte Klavier – auf dem Wohnzimmerklavier oder auf dem in der Schule –, und jemand hatte eine Geige mitgebracht. Beim Squaredance galt es, komplizierte Figuren und Schritte auszuführen, die von einer besonders befähigten Person (es war immer ein Mann)
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