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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Also in meinen Augen etwas ganz Besonderes, da mein Vater sich ebenso wie jeder andere Mann, den ich kannte, seine Zigaretten selbst drehte. Aber Peggy schüttelte den Kopf und klagte mit dieser gekränkten Stimme, dass sie nicht rauchte. Dann bot ihr der andere Mann einen Streifen Kaugummi an, und den nahm sie.
    Was ging vor? Ich konnte es mir nicht erklären. Der Junge, der den Kaugummi angeboten hatte, bemerkte mich, während er in seiner Tasche kramte, und er sagte: »Peggy? Peggy, da ist ein kleines Mädchen, das nach oben will.«
    Sie senkte den Kopf, so dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ich roch im Vorbeigehen Parfüm. Ich roch auch die Zigaretten und die männlichen wollenen Uniformen, die geputzten Stiefel.
    Als ich mit dem Mantel an wieder herunterkam, waren sie immer noch da, aber diesmal hatten sie mich erwartet, also schwiegen alle, während ich vorbeiging. Nur Peggy schluchzte laut auf, und der eine junge Mann streichelte weiter ihren Oberschenkel. Ihr Rock war hochgerutscht, und ich sah ihren Strumpfhalter.
    Lange Zeit erinnerte ich mich an die Stimmen. Ich zerbrach mir den Kopf darüber. Nicht über Peggys Stimme. Über die der Männer. Jetzt weiß ich, dass einige der in den ersten Kriegsjahren in Port Albert stationierten Männer aus England gekommen waren, um sich hier auf den Kampf gegen die Deutschen vorzubereiten. Und so frage ich mich, ob es einer der englischen Dialekte war, den ich so sanft und liebevoll fand. Jedenfalls hatte ich noch nie in meinem Leben einen Mann so reden hören, in einem Ton, als sei die Frau ein so edles und hochangesehenes Geschöpf, dass jedwede Kränkung irgendwie ein Verstoß gegen das Gesetz, eine Sünde war.
    Was hatte eigentlich stattgefunden, warum weinte Peggy? Diese Frage interessierte mich zu der Zeit kaum. Ich war selbst nicht besonders tapfer. Ich weinte, als ich auf dem Nachhauseweg von meiner ersten Schule gejagt und mit Dachschindeln beworfen wurde. Ich weinte, als die Lehrerin in der städtischen Schule mich vor der ganzen Klasse wegen der erschreckenden Unordnung auf meinem Pult anprangerte. Und als sie meine Mutter deswegen anrief, und meine Mutter beim Auflegen des Hörers selbst weinte und Qualen litt, weil ich ihr Schande machte. Offenbar waren einige Menschen von Natur aus mutig und andere nicht. Jemand musste etwas zu Peggy gesagt haben, und nun schluchzte sie, weil sie genau wie ich kein dickes Fell hatte.
    Es musste diese rotgoldene Frau gewesen sein, dachte ich, die ohne jeden Grund gemein gewesen war. Es musste eine Frau gewesen sein. Denn wenn es ein Mann gewesen wäre, hätten ihre Luftwaffen-Tröster ihn bestraft. Ihn angeschnauzt, halt dein Maul, ihn vielleicht hinausgezerrt und verprügelt.
    Es war also nicht Peggy, die mich interessierte, nicht ihre Tränen, ihr ramponiertes Aussehen. Sie erinnerte mich zu sehr an mich selbst. Es waren ihre Tröster, über die ich staunte. Wie sie ihr zu Füßen zu liegen schienen.
    Was hatten sie gesagt? Nichts Besonderes. Schon gut, sagten sie. Ist ja gut, Peggy, sagten sie. Komm, Peggy. Schon gut. Schon gut.
    So liebevoll. Dass jemand derart liebevoll sein konnte.
    Es ist natürlich gut möglich, dass diese jungen Männer, in unser Land geholt, um für die Bombenflüge geschult zu werden, bei denen so viele von ihnen ihr Leben lassen sollten, im ganz normalen Dialekt von Cornwall oder Kent oder Hull oder Schottland sprachen. Aber für mich schienen sie unfähig, den Mund aufzumachen, ohne etwas Wohltuendes zu äußern, einen spontanen Segen. Mir kam nicht in den Sinn, dass ihre Zukunft eng mit dem Unheil verbunden war oder dass ihr normales Leben zum Fenster hinausgeflogen und am Boden zerschellt war. Ich dachte nur an den Segen und daran, wie wunderbar es war, ihn zu erhalten, welches Glück diese Peggy hatte und wie wenig sie es verdiente.
    Und lange Zeit, ich weiß nicht, wie lange, dachte ich an sie. In der kalten Dunkelheit meines Schlafzimmers wiegten sie mich in den Schlaf. Ich konnte sie einschalten, ihre Gesichter und ihre Stimmen aufrufen – aber noch weit mehr, ihre Stimmen waren jetzt an mich gerichtet und nicht an eine störende Dritte. Ihre Hände streichelten jetzt meine mageren Schenkel, und ihre Stimmen versicherten mir, dass auch ich liebenswert war.
     
     
    Und während sie immer noch meine halbgaren erotischen Phantasievorstellungen bevölkerten, hatten sie sich schon auf den Weg gemacht. Einige, viele, auf den Weg in den Tod.

Liebes Leben
    I ch lebte in meiner Kindheit

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