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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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worden wären, hätten sie dann noch all diese Leckereien mitgebracht? Und waren diese Leckereien wirklich so üppig, wie ich sie in Erinnerung habe? Wo alle so arm waren? Aber vielleicht fühlten sie sich schon nicht mehr so arm, weil der Krieg vielen Arbeit gab und weil die Soldaten Geld nach Hause schickten. Wenn ich damals wirklich zehn Jahre alt war, wie ich annehme, dann gingen diese Veränderungen seit zwei Jahren vor sich.
    Stufen führten von der Küche hoch und auch vom Wohnzimmer und vereinten sich zu einer Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. Nachdem ich meinen Mantel und meine Stiefel in dem aufgeräumten vorderen Schlafzimmer losgeworden war, hörte ich immer noch die Stimme meiner Mutter aus der Küche ertönen. Aber ich hörte auch Musik, die aus dem Wohnzimmer kam, also ging ich dorthin hinunter.
    Alle Möbel waren aus dem Zimmer gerückt worden, nur das Klavier stand noch da. Rouleaus aus dunkelgrünem Tuch von der Art, die ich besonders trist fand, waren vor den Fenstern heruntergelassen worden. Trotzdem herrschte in dem Raum keine triste Atmosphäre. Viele Leute tanzten, hielten einander sittsam umfasst, bewegten sich hin und her oder drehten sich in engen Kreisen. Zwei Mädchen, die noch zur Schule gingen, tanzten in einer Weise, die gerade modern wurde, bewegten sich einander gegenüber, hielten sich manchmal bei den Händen und manchmal nicht. Sie lächelten mir zu, als sie mich sahen, und ich verging vor Freude, wie ich es gerne tat, wenn irgendein selbstbewusstes älteres Mädchen mir auch nur die geringste Beachtung schenkte.
    Eine Frau war in dem Raum, die mir sofort auffiel, eine, deren Kleid das meiner Mutter bestimmt in den Schatten stellen würde. Sie muss um einiges älter gewesen sein als meine Mutter – ihre Haare waren weiß und zu einer raffinierten Frisur aus eng anliegenden Dauerwellen arrangiert. Sie war eine große Person mit kräftigen Schultern und breiten Hüften, und sie trug ein Kleid aus rotgoldenem Taft mit tiefem, rechteckigem Ausschnitt und einem Rock, der nur bis über die Knie reichte. Die kurzen Ärmel umschlossen eng ihre Arme, deren Fleisch fest, glatt und weiß war, wie fetter Speck.
    Ein verblüffender Anblick. Ich hätte es zuvor nicht für möglich gehalten, dass jemand alt und dabei elegant aussehen konnte, vollschlank und zugleich anmutig, aufreizend und doch sehr würdevoll. Man hätte sie ordinär nennen können, was meine Mutter vielleicht später tat – das war eines ihrer Wörter. Wohlwollender hätte man auch stattlich sagen können. Sie machte eigentlich nichts von sich her, außer durch ihren ganzen Stil und die Farbe ihres Kleides. Sie und ihr Partner tanzten sittsam und etwas geistesabwesend miteinander wie ein altes Ehepaar.
    Ich wusste nicht, wie sie hieß. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ich wusste nicht, dass sie wohlbekannt war in der Stadt und vielleicht sogar über die Grenzen der Stadt hinaus.
    Ich glaube, wenn ich jetzt eine Erzählung schriebe, statt mich an etwas zu erinnern, was wirklich geschehen ist, ich hätte ihr nie dieses Kleid verpasst. Eine Art von Reklame, die sie nicht brauchte.
    Wenn ich in der Stadt gewohnt hätte, statt nur jeden Tag dort zur Schule zu gehen, hätte ich wahrscheinlich gewusst, dass sie eine berüchtigte Prostituierte war. Ich hätte sie bestimmt irgendwann gesehen, wenn auch nicht in dem rotgoldenen Kleid. Und ich hätte nicht das Wort Prostituierte benutzt. Wohl eher schlechte Frau. Ich hätte gewusst, dass sie etwas Abscheuliches und Gefährliches und Aufregendes und Wagemutiges an sich hatte, ohne zu wissen, was das eigentlich war. Wenn jemand versucht hätte, mir das zu sagen, ich hätte ihm wahrscheinlich nicht geglaubt.
    Es gab mehrere Menschen in der Stadt, die ungewöhnlich aussahen, und vielleicht hätte ich sie für einen davon gehalten. Da war der Bucklige, der jeden Tag die Türen des Rathauses wienerte und, soweit ich weiß, nichts sonst tat. Und die völlig ordentlich aussehende Frau, die unablässig laut mit sich selbst redete und Leute ausschimpfte, die nirgendwo zu sehen waren.
    Ich hätte mit der Zeit ihren Namen erfahren und eines Tages begriffen, dass sie wirklich diese für mich so unglaublichen Dinge tat. Und dass der Mann, den ich mit ihr tanzen sah und dessen Namen ich vielleicht nie erfuhr, der Besitzer des Billardkasinos war. Eines Tages, als ich in der Highschool war, forderten mich zwei Mädchen heraus, in das Billardkasino hineinzugehen, an dem wir gerade vorbeikamen,

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