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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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auserkoren wurde, meine Mutter zu begleiten, anstelle meines Vaters. Aber das ist eigentlich nicht so rätselhaft. Vielleicht tanzte mein Vater nicht gerne, meine Mutter hingegen schon. Außerdem gab es zu Hause zwei kleine Kinder, auf die aufgepasst werden musste, und ich war noch nicht alt genug, um das zu tun. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern sich je einen Babysitter nahmen. Ich bin nicht mal sicher, ob es diesen Ausdruck damals schon gab. Als Halbwüchsige verdiente ich mir dann damit etwas Geld, aber da hatten die Zeiten sich schon geändert.
    Wir hatten uns feingemacht. Auf den ländlichen Tanzabenden, an die meine Mutter sich erinnerte, trug niemand diese affigen Squaredance-Aufmachungen, wie man sie später im Fernsehen sah. Alle hatten ihre festlichste Kleidung angelegt, und das nicht zu tun – in irgendetwas mit diesen Rüschen und Halstüchern zu erscheinen, mit denen die Landbevölkerung sich angeblich schmückte –, wäre eine Beleidigung für die Gastgeber und alle anderen gewesen. Ich trug ein Kleid, das meine Mutter mir geschneidert hatte, aus weicher Winterwolle. Der Rock war rosa und das Oberteil gelb, mit einem Herz aus der rosa Wolle dort angenäht, wo eines Tages meine linke Brust sein würde. Meine Haare waren gekämmt und befeuchtet und zu jenen dicken, wurstartigen Ringellocken geformt worden, von denen ich mich jeden Tag auf dem Schulweg befreite. Ich hatte mich beschwert, sie zu dem Tanzabend tragen zu müssen, mit der Begründung, dass niemand anders solche hatte. Worauf meine Mutter erwiderte, dass niemand anders solches Glück hatte. Ich ließ die Beschwerde fallen, weil ich unbedingt mitgehen wollte, oder vielleicht, weil ich dachte, dass niemand aus der Schule da sein würde, also kam es nicht darauf an. Ich lebte in ständiger Angst vor dem Spott meiner Schulkameraden.
    Das Kleid meiner Mutter war nicht selbstgeschneidert. Es war ihr bestes, zu elegant für die Kirche und zu festlich für Beerdigungen, und daher kaum je getragen. Es war aus schwarzem Samt, mit Ärmeln bis zu den Ellbogen und kleinem Ausschnitt. Das Wunderbare daran waren die unzähligen winzigen Perlen auf dem ganzen Oberteil in Gold, Silber und allen möglichen Farben, die im Licht schimmerten und funkelten, wenn sie sich bewegte oder auch nur atmete. Sie hatte ihr Haar, das noch fast ganz schwarz war, in Zöpfe geflochten und zu einem festen Krönchen auf ihrem Kopf zusammengesteckt. Wenn sie jemand anders und nicht meine Mutter gewesen wäre, hätte ich sie aufregend hübsch gefunden. Ich glaube sogar, ich fand sie sehr hübsch, aber sobald wir in das fremde Haus gelangten, musste ich sehen, dass ihr bestes Kleid völlig anders war als die Kleider aller anderen Frauen, obwohl jede von denen bestimmt auch ihr bestes angezogen hatte.
    Diese anderen Frauen befanden sich in der Küche. Dorthin gingen wir und sahen uns an, was alles auf einem großen Tisch stand. Allerlei Törtchen und Plätzchen und Obstkuchen und andere Kuchen. Auch meine Mutter stellte eine Leckerei hin, die sie zubereitet hatte, und machte sich daran zu schaffen, damit sie besser aussah. Sie äußerte Bemerkungen darüber, wie appetitanregend alles aussah.
    Bin ich sicher, dass sie das sagte – appetitanregend? Ganz egal, was sie sagte, es hörte sich nie richtig an. Ich wünschte mir, mein Vater wäre da, der sich bei jedem Anlass vollkommen richtig anhörte, sogar, wenn er sich grammatisch korrekt ausdrückte. Was er innerhalb unseres Hauses durchaus tat, außerhalb aber weniger bereitwillig. Er passte sich dem jeweiligen Gespräch an – er begriff, dass es am besten war, nichts Außergewöhnliches zu sagen. Meine Mutter war das genaue Gegenteil. Bei ihr war alles klar, eindringlich und Aufmerksamkeit erheischend.
    So klang es auch jetzt, und ich hörte sie auflachen, entzückt, als wollte sie wettmachen, dass niemand mit ihr redete. Sie erkundigte sich, wo wir unsere Mäntel ablegen konnten.
    Wie sich herausstellte, konnten wir sie überall hintun, aber wenn wir wollten, sagte jemand, konnten wir sie im ersten Stock aufs Bett legen. Man gelangte über eine von Wänden umschlossene Treppe hinauf, und es gab kein Licht, nur oben. Meine Mutter wies mich an, vorzugehen, sie käme gleich nach, also stapfte ich hoch.
    Hier stellt sich die Frage, ob wirklich etwas für die Teilnahme an dem Tanzabend bezahlt werden musste. Vielleicht blieb meine Mutter zurück, um das zu erledigen. Andererseits, wenn Leute um Eintrittsgeld gebeten

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