Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Mal am Tag, dass wir hinausgingen. Vormittags sahen wir uns Serien im Kinderfernsehen an – oder sie las, während ich zusah. (Sie hatte das Lesen doch nicht sehr lange aufgegeben.) Zum Mittagessen machten wir uns eine Dosensuppe heiß, dann hielt ich mein Mittagsschläfchen, und sie las weiter. Sie war inzwischen sehr dick, und das Baby bewegte sich in ihrem Bauch, so dass ich es fühlen konnte. Es sollte Brandy heißen, hieß schon Brandy, ob es nun ein Junge oder ein Mädchen wurde.
Eines Tages, als wir den Weg zum Briefkasten hinuntergingen und gar nicht mehr weit davon weg waren, blieb meine Mutter reglos stehen.
»Still«, sagte sie zu mir, obwohl ich kein Wort gesagt hatte und nicht mal mit meinen Stiefeln im Schnee gescharrt hatte.
»Ich war doch still«, sagte ich.
»Psst. Dreh um.«
»Aber wir haben die Post nicht geholt.«
»Egal. Geh einfach.«
Dann fiel mir auf, dass Blitzee, die uns immer begleitete, kurz vor oder hinter uns, nicht mehr da war. Ein anderer Hund war da, auf der anderen Straßenseite, nicht weit vom Briefkasten.
Sobald wir zurück waren, rief meine Mutter im Theater an und ließ Blitzee herein, die auf uns wartete. Im Theater meldete sich niemand. Sie rief in der Schule an und bat jemanden, dem Busfahrer aufzutragen, Caro bis zur Haustür zu fahren. Wie sich herausstellte, ging das nicht, denn es hatte wieder geschneit, seit Neal zuletzt den Weg geräumt hatte, aber der Fahrer passte auf, bis Caro den Wohnwagen erreicht hatte. Inzwischen war kein Wolf mehr zu sehen.
Neal war der Meinung, dass es nie einen gegeben hatte. Und wenn ja, sagte er, wäre er keine Gefahr für uns gewesen, derart geschwächt vom Winterschlaf.
Caro sagte, dass Wölfe keinen Winterschlaf hielten. »Das haben wir in der Schule gelernt.«
Unsere Mutter wollte, dass Neal sich ein Gewehr besorgte.
»Du denkst, ich werde mir ein Gewehr besorgen und hingehen und eine verdammt arme Wölfin erschießen, die wahrscheinlich draußen im Wald einen Haufen kleine Babys hat und nur versucht, sie zu beschützen, so wie du versuchst, deine zu beschützen?«, sagte er leise.
Caro sagte: »Nur zwei. Sie haben immer nur zwei auf einmal.«
»Ja, ja. Ich rede mit deiner Mutter.«
»Das weißt du doch gar nicht«, sagte meine Mutter. »Du weißt doch gar nicht, ob das Tier hungrige Junge hat oder was.«
Ich hätte nie gedacht, dass sie so mit ihm reden würde.
Er sagte: »Sachte, sachte. Denken wir einfach mal nach. Gewehre sind etwas Schreckliches. Wenn ich jetzt hingehe und mir ein Gewehr besorge, was würde ich damit sagen? Dass Vietnam in Ordnung ist? Dass ich genauso gut nach Vietnam hätte gehen können?«
»Du bist kein Amerikaner.«
»Ich lass mich von dir nicht provozieren.«
Das ist mehr oder weniger, was sie sagten, und es endete damit, dass Neal sich kein Gewehr zu besorgen brauchte. Den Wolf, falls es einer war, sahen wir nie wieder. Ich glaube, meine Mutter hörte auf, die Post zu holen, aber sie kann auch zu dick und unbeholfen dafür geworden sein.
Der Schnee verschwand langsam wie von Zauberhand. Die Bäume waren noch kahl, und meine Mutter zwang Caro, morgens ihren Wintermantel anzuziehen, aber wenn sie von der Schule nach Hause kam, schleifte sie ihn hinter sich her.
Meine Mutter sagte, das Baby, das mussten Zwillinge sein, aber der Arzt sagte nein.
»Na großartig«, sagte Neal, ganz angetan von der Zwillingsidee. »Was wissen schon die Ärzte.«
Die Kiesgrube hatte sich bis zum Rand mit geschmolzenem Schnee und Regenwasser gefüllt, so dass Caro auf ihrem Weg zum Schulbus einen Bogen darum machen musste. Um einen Teich, still und gleißend unter dem klaren Himmel. Caro fragte ohne große Hoffnung, ob wir darin spielen dürften.
Unsere Mutter fragte, ob wir verrückt seien. »Der muss sechs Meter tief sein.«
Neal sagte: »Drei vielleicht.«
Caro sagte: »Direkt am Rand nicht.«
Unsere Mutter sagte, doch. »Er fällt steil ab«, sagte sie. »Das ist nicht wie am Strand hineingehen, verdammt noch mal. Bleibt ja davon weg.«
Sie hatte sich angewöhnt, ziemlich oft »verdammt noch mal« zu sagen, vielleicht sogar öfter als Neal und in gereizterem Ton.
»Sollen wir auch den Hund davon fernhalten?«, fragte sie ihn.
Neal sagte, das sei kein Problem. »Hunde können schwimmen.«
Ein Samstag. Caro schaute mit mir
Der gute Riese
an und machte Bemerkungen, die alles verdarben. Neal lag auf der Couch, die ausgeklappt das Bett für ihn und meine Mutter ergab. Er rauchte seine Sorte
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