Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
kleiden, in Tücher und lange Röcke und baumelnde Halsketten. Sie ließ ihre Haare wild wachsen und hörte auf, sich zu schminken. Natürlich hatte ich diese Veränderungen zu der Zeit nicht verstanden, sie waren mir nicht einmal besonders aufgefallen. Meine Mutter war meine Mutter. Aber Caro hatte sie sicher bemerkt. Und mein Vater sowieso. Obwohl ich nach allem, was ich von seinem Charakter und seinen Gefühlen für meine Mutter weiß, denke, es kann sein, dass er stolz darauf war, wie gut sie in dieser befreienden Kleidung aussah und wie gut sie zu den Theaterleuten passte. Als er später über diese Zeit sprach, sagte er, er habe die schönen Künste immer gutgeheißen. Ich kann mir jetzt vorstellen, wie peinlich es meiner Mutter gewesen wäre, wie verlegen sie gewesen wäre und wie sie gelacht hätte, um ihre Verlegenheit zu verbergen, wenn er das vor ihren Theaterfreunden verkündet hätte.
Dann kam eine Entwicklung, die vielleicht oder wahrscheinlich vorhersehbar war, allerdings nicht für meinen Vater. Ich weiß nicht, ob das noch irgendeiner der anderen Theaterbegeisterten widerfuhr. Ich weiß aber, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, dass mein Vater weinte und einen ganzen Tag lang meiner Mutter im Haus hinterherlief, sie nicht aus den Augen ließ und sich weigerte, ihr zu glauben. Und statt ihm irgendwas zu sagen, damit es ihm besserging, sagte sie ihm etwas, womit es ihm noch schlechter ging.
Sie erzählte ihm, dass das Baby von Neal war.
War sie sicher?
Absolut. Sie hatte es nachgerechnet.
Was geschah dann?
Mein Vater gab das Weinen auf. Er musste wieder zur Arbeit. Meine Mutter packte unsere Sachen und zog mit uns zu Neal in den Wohnwagen, den er draußen auf dem Land gefunden hatte. Sie sagte hinterher, dass sie ebenfalls geweint hatte. Aber sie sagte auch, dass sie sich lebendig gefühlt hatte. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben wahrhaft lebendig. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Chance bekommen; sie hatte ihr Leben ganz von vorn angefangen. Hatte sich von ihrem Tafelsilber getrennt und von ihrem Porzellan, von ihrem Einrichtungsstil und ihrem Blumengarten und sogar von den Büchern in ihrem Bücherschrank. Jetzt wollte sie leben und nicht lesen. Sie hatte ihre Kleider im Kleiderschrank gelassen und ihre hochhackigen Schuhe auf den Schuhspannern. Ihren Brillantring und ihren Ehering auf der Frisierkommode. Ihre seidenen Nachthemden in der Schublade. Sie hatte vor, auf dem Land nackt herumzulaufen, zumindest solange das Wetter warm blieb.
Das ging nicht gut, denn als sie es versuchte, lief Caro weg und versteckte sich in ihrer Pritsche, und sogar Neal sagte, dass er von der Idee nicht begeistert war.
Was hielt er von alldem? Neal. Seine Philosophie, wie er es später ausdrückte, war, alles willkommen zu heißen, was geschah. Alles ist ein Geschenk. Wir geben und wir nehmen.
Ich misstraue Menschen, die so reden, aber ich kann nicht sagen, dass ich ein Recht dazu habe.
Er war kein richtiger Schauspieler. Die Schauspielerei, sagte er, sei für ihn ein Experiment gewesen. Um mal zu sehen, was er über sich selbst herausfinden konnte. Im College, bevor er es hinschmiss, hatte er als einer der Männer des Chors in
König Ödipus
auf der Bühne gestanden. Ihm hatte das gefallen – das Sich-Hingeben, mit anderen eins werden. Dann stieß er eines Tages in Toronto auf einen Freund, der auf dem Weg war, für ein Sommerengagement bei einer neuen Kleinstadt-Theatertruppe vorzusprechen. Er ging mit, weil er nichts Besseres zu tun hatte, und am Ende bekam er das Engagement und der andere nicht. Er sollte Banquo spielen. Manchmal ist Banquos Geist auf der Bühne zu sehen, manchmal nicht. Diesmal sollte er zu sehen sein, und Neal hatte die passende Größe. Gerade richtig. Ein kräftiger Geist.
Er hatte ohnehin daran gedacht, in unserer Stadt zu überwintern, noch bevor meine Mutter ihren überraschenden Entschluss fasste. Er hatte bereits den Wohnwagen besorgt. Er besaß genug handwerkliche Kenntnisse, um bei der Renovierung des Theaters mitzuarbeiten, was ihn bis zum Frühjahr über Wasser halten würde. Weiter vorausplanen mochte er nicht.
Caro brauchte nicht einmal die Schule zu wechseln. Sie konnte am Ende des kurzen Feldweges, der an der Kiesgrube entlangführte, in den Schulbus steigen. Sie musste sich mit den Kindern vom Land anfreunden und vielleicht den Kindern aus der Stadt, mit denen sie im Jahr davor befreundet war, einiges erklären, aber falls sie damit
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