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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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warten darauf, dass Patienten auftauchen.
    Und sie ist nicht mal zu einer Untersuchung hier. Sie wird wieder erklären müssen, dass sie sich nur vergewissern will, wo und wann morgen ihr Termin ist. All das hat sie sehr ermüdet.
    Es gibt einen runden Empfangstresen, hüfthoch, dessen Verkleidungen aus dunklem Holz wie Mahagoni aussehen, aber wahrscheinlich keins sind. Im Augenblick sitzt niemand dahinter. Natürlich nicht, die übliche Sprechstundenzeit ist vorbei. Sie schaut sich nach einer Klingel um, sieht aber keine. Dann schaut sie, ob es eine Liste mit den Namen der Ärzte oder des diensthabenden Arztes gibt. Die entdeckt sie auch nicht. Man sollte meinen, dass es die Möglichkeit gibt, sich an jemanden zu wenden, ganz egal, wie spät es ist. Dass in einem solchen Haus ständig jemand Dienstbereitschaft hat.
    Auch kein wichtiges Gerät auf der anderen Seite des Tresens. Kein Computer, kein Telefon, keine Unterlagen, keine farbigen Signaltasten. Natürlich ist es ihr nicht gelungen, hinter den Tresen zu gelangen, so dass es Fächer geben kann, die außerhalb ihres Blickfeldes liegen. Tasten, die eine Empfangsdame erreichen kann und sie nicht.
    Sie gibt es vorläufig auf, sich mit dem Empfangstresen zu beschäftigen, und schaut sich genauer in dem Raum um, in dem sie sich befindet. Ein Achteck mit Türen in regelmäßigen Abständen. Vier Türen – eine ist die große Tür, die das Licht und eventuelle Besucher einlässt, auf der anderen Seite ist eine Tür hinter dem Empfangstresen, offenbar nur für das Personal bestimmt und nicht leicht zugänglich, und die anderen beiden Türen, genau gleich und einander gegenüber, führen offensichtlich in die langen Flügel, in die Flure und zu den Zimmern, in denen die Insassen untergebracht sind. In jeder ist im oberen Teil ein Fenster, dessen Glas klar genug aussieht, um durchsichtig zu sein.
    Sie geht zu einer dieser hoffentlich weiterführenden Türen und klopft, dann probiert sie den Türknopf und kann ihn nicht bewegen. Abgeschlossen. Sie kann auch durch das Fenster nichts richtig erkennen. Von nahem ist das Glas stark gewellt und verzerrt alles.
    Bei der Tür gegenüber gibt es dasselbe Problem mit dem Glas und mit dem Türknopf.
    Das Klacken ihrer Schuhe auf dem Fußboden, die Irreführung der Fenster, die Nutzlosigkeit der glatten Türknöpfe haben sie mehr entmutigt, als sie sich eingestehen möchte.
    Sie gibt jedoch nicht auf. Sie nimmt sich noch einmal die Türen vor, in derselben Reihenfolge, und diesmal rüttelt sie an beiden Knöpfen so kräftig, wie sie nur kann, und ruft auch »Hallo?« mit einer Stimme, die anfangs normal und unbeschwert klingt, dann verärgert, aber nicht hoffnungsvoller.
    Sie quetscht sich hinter den Empfangstresen und hämmert an die Tür dahinter, eigentlich ohne Hoffnung. Diese Tür hat nicht einmal einen Türknopf, nur ein Schlüsselloch.
    Ihr bleibt nichts übrig, als diesen Ort zu verlassen und nach Hause zu fahren.
    Alles sehr freundlich und elegant, denkt sie, aber ohne erkennbare Bereitschaft, Besuchern behilflich zu sein. Natürlich stopfen sie die Bewohner oder Patienten oder wie sie sie nun nennen, früh ins Bett, es ist überall dieselbe Geschichte, ganz egal, wie prächtig die Räumlichkeiten sind.
    In Gedanken immer noch bei diesem Thema, gibt sie der Eingangstür einen Stups. Die Tür ist zu schwer. Sie drückt wieder dagegen.
    Und noch einmal. Vergeblich.
    Sie kann die Blumenkübel draußen vor der Tür sehen. Ein Auto, das auf der Straße vorbeifährt. Das sanfte Abendlicht.
    Sie muss innehalten und nachdenken.
    Hier drin ist kein künstliches Licht an. Es wird in dem Raum dunkel werden. Trotz des Dämmerlichts draußen scheint es hier schon zu dunkeln. Niemand wird kommen, alle haben sie ihren Dienst beendet, zumindest ihren Dienst in diesem Teil des Gebäudes. Wo immer sie sich jetzt niedergelassen haben, dort werden sie bleiben.
    Sie macht den Mund auf, um zu schreien, aber es will kein Schrei herauskommen. Sie zittert am ganzen Körper, und sosehr sie sich auch bemüht, sie schafft es nicht, Luft in ihre Lunge zu bringen. Als hätte sie zusammengeknülltes Löschpapier in der Kehle. Ersticken. Sie weiß, dass sie sich anders verhalten muss, und mehr als das, sie muss anders denken. Ruhig. Ruhig. Atmen. Atmen.
    Sie weiß nicht, ob die Panik lange gedauert hat oder nur kurz. Ihr Herz hämmert immer noch, aber sie ist fast in Sicherheit.
     
     
    Es gibt hier eine Frau, die Sandy heißt. So steht es auf dem

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