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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Schildchen, das sie trägt, aber Nancy weiß, wer sie ist, auch ohne das Schildchen.
    »Was sollen wir bloß mit Ihnen anfangen?«, sagt Sandy. »Wir wollen doch nur, dass Sie Ihr Nachthemd anziehen. Und Sie führen sich auf wie ein Hühnchen, das Angst hat, auf dem Mittagstisch zu landen.«
    »Sie müssen geträumt haben«, sagt sie. »Wovon haben Sie denn geträumt?«
    »Ach, nichts«, sagt Nancy. »Ich war wieder zurück, als mein Mann noch lebte und ich noch Auto fuhr.«
    »Ein schönes Auto?«
    »Ein Volvo.«
    »Sehen Sie? Sie sind völlig auf Zack.«

Dolly
    I n jenem Herbst hatte es einige Gespräche über den Tod gegeben. Da Franklin zu der Zeit dreiundachtzig Jahre alt war und ich selbst einundsiebzig, hatten wir natürlich Pläne gemacht für unsere Trauerfeiern (keine) und die Beerdigungen (sofort) in einer bereits gekauften Grabstelle. Wir hatten uns, anders als die meisten unserer Freunde, gegen die Feuerbestattung entschieden. Nur das eigentliche Sterben war ausgelassen oder dem Zufall überlassen worden.
    Eines Tages fuhren wir nicht allzu weit von unserem Haus in der Gegend umher und entdeckten eine Straße, die wir noch nicht kannten. Die Bäume, Ahornbäume, Eichen und andere, waren noch nicht alt, wenn auch schon von beträchtlicher Größe, und zeigten an, dass das Gelände planiert worden war. Früher einmal Farmland, mit Viehweiden, Häusern und Scheunen. Aber davon war nichts mehr zu sehen. Die Straße war nicht asphaltiert, aber nicht unbefahren. Sie sah so aus, als bekäme sie jeden Tag mehrere Fahrzeuge zu Gesicht. Vielleicht benutzten Laster sie als Abkürzung.
    Das sei wichtig, sagte Franklin. Wir wollten doch auf keinen Fall ein oder zwei Tage oder womöglich eine Woche lang da sein, ohne entdeckt zu werden. Ebenso wenig wollten wir das Auto leer stehen lassen, so dass die Polizei durch die Bäume stapfen und die sterblichen Überreste suchen musste, an denen vielleicht schon die Kojoten dran gewesen waren.
    Auch durfte der Tag nicht zu melancholisch sein. Kein Regen oder früher Schnee. Das Laub schon verfärbt, aber noch an den Bäumen. Mit Gold überzogen, wie an diesem Tag. Aber vielleicht sollte die Sonne nicht scheinen, sonst könnte das Gold, die Herrlichkeit des Tages, uns das Gefühl geben, Spielverderber zu sein.
    Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit über den Abschiedsbrief. Das heißt, ob wir einen hinterlassen sollten oder nicht. Ich fand, dass wir den Leuten eine Erklärung schuldeten. Sie sollten erfahren, dass es keine Frage einer tödlichen Krankheit war, nicht der Beginn von Schmerzen, die jede Aussicht auf ein erträgliches Leben zunichtemachten. Sie sollten wissen, dass dies eine besonnene, man könnte fast sagen, eine unbeschwerte Entscheidung war.
    Gehen, wenn es am schönsten ist.
    Nein. Das nahm ich zurück. Zu flapsig. Eine Beleidigung.
    Franklin war der Ansicht, dass jedwede Erklärung eine Beleidigung war. Nicht für andere, sondern für uns. Für uns. Wir gehörten uns und einander, und jedwede Erklärung fand er wehleidig.
    Ich verstand, was er meinte, war aber immer noch anderer Meinung.
    Und genau diese Tatsache – unsere Meinungsverschiedenheit – vertrieb offenbar die Möglichkeit aus seinem Kopf.
    Er sagte, was für ein Blödsinn. Für ihn in Ordnung, aber ich sei zu jung. Wir könnten wieder darüber reden, wenn ich fünfundsiebzig sei.
    Ich sagte, das Einzige, was mir ein wenig Sorge bereite, sei die offenbar vorhandene Annahme, dass in unserem Leben nichts mehr passieren würde. Nichts von Bedeutung für uns, nichts, was noch bewältigt werden musste.
    Er sagte, wir hätten uns gerade gestritten, was wollte ich denn noch?
    Es war zu höflich, sagte ich.
     
     
    Ich habe mich nie jünger als Franklin gefühlt, außer vielleicht, wenn der Krieg zur Sprache kommt – ich meine den Zweiten Weltkrieg –, und das passiert heutzutage selten. Zum einen bewegt er sich mehr als ich. Er war mal Stallmeister – ich meine einen Stall, in dem die Leute Reitpferde unterstellen, keine Rennpferde. Er geht immer noch zwei oder drei Mal in der Woche hin und reitet sein eigenes Pferd und redet mit dem jetzigen Stallmeister, der gelegentlich seinen Rat sucht. Obwohl er sich meistens rauszuhalten versucht, sagt er.
    Er ist eigentlich Dichter. Er ist tatsächlich Dichter und tatsächlich Reitlehrer. Er hat in etlichen Colleges Lehraufträge für ein Semester gehabt, aber nie so weit weg, dass er sich nicht um den Reitstall kümmern konnte. Er willigt ein,

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