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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sehr adrett und lebhaft aussieht –, steht auf der Straße und beobachtet ihn. Sie hält ein Springseil in den Händen und redet mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann sein kann – dafür verhalten sich beide zu herzlich.
    Die Straße stellt sich als Sackgasse heraus. Es geht nicht weiter.
    Nancy unterbricht die Erwachsenen und entschuldigt sich dafür. Sie sagt, dass sie auf der Suche nach einem Arzt ist.
    »Nein, nein«, sagt sie. »Keine Sorge. Nur seine Adresse. Ich dachte, vielleicht kennen Sie ihn.«
    Dann taucht das Problem auf, dass sie wieder nicht genau weiß, wie er heißt. Die beiden sind zu höflich, um sich ihr Befremden anmerken zu lassen, können ihr aber nicht helfen.
    Der Junge kommt auf einem seiner Blindflüge angesaust und verfehlt sie alle drei nur knapp.
    Gelächter. Keine Zurechtweisung. Ein rücksichtsloser kleiner Lümmel, und sie scheinen ihn echt zu bewundern. Sie machen beide Bemerkungen über die Schönheit des Abends, und Nancy dreht sich um und tritt den Rückweg an.
    Nur geht sie nicht den ganzen Weg zurück, nicht bis zum Bestattungsinstitut. Sie entdeckt eine Seitenstraße, die sie vorher nicht beachtet hat, vielleicht, weil sie ungepflastert ist, und weil sie nicht dachte, dass da eine Arztpraxis sein könnte.
    Es gibt keinen Bürgersteig, und die Häuser sind von Gerümpel umgeben. Zwei Männer werkeln unter der Motorhaube eines Lastwagens, und sie hat den Eindruck, dass es besser ist, sie nicht zu unterbrechen. Außerdem hat sie ein Stück weiter etwas Interessantes erblickt.
    Eine Hecke, die bis auf die Straße reicht. Sie ist wohl zu hoch, um darüber hinwegsehen zu können, aber vielleicht kann sie ja hindurchspähen.
    Das ist nicht nötig. Als sie an der Hecke vorbeigeht, stellt sie fest, dass das Grundstück – ungefähr so groß wie vier Stadtgrundstücke – zu der Straße, auf der sie geht, völlig offen ist. Es scheint eine Art von Park zu sein, Wege aus Steinplatten durchschneiden diagonal das gemähte und üppige Gras. Zwischen den Wegen sprießen im Gras Blumen. Einige kennt sie – die dunkelgoldenen und hellgelben Studentenblumen zum Beispiel, den Phlox, hellrosa, rosarot und weiß mit roter Mitte –, aber sie ist selbst keine große Gärtnerin, und hier blüht es in Stauden und am Boden in solcher Farbenvielfalt, dass sie keine Namen dafür hat. Einige Pflanzen klettern an Spalieren hoch, andere breiten sich frei aus. Alles kunstvoll, aber nicht steif, nicht einmal der Springbrunnen, der etwa zwei Meter hoch aufsteigt, bevor er in sein von Steinen gesäumtes Becken herabsinkt. Sie ist von der Straße hereingekommen, um sich ein wenig von seinem kühlen Sprühen zu holen, und dort findet sie eine schmiedeeiserne Bank, auf die sie sich setzen kann.
    Ein Mann mit einer Gartenschere kommt einen der Wege entlang. Gärtner müssen hier offenbar bis spät abends arbeiten. Aber um die Wahrheit zu sagen, er sieht nicht aus wie eine angestellte Arbeitskraft. Er ist groß und sehr dünn und trägt ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose, die beide eng anliegen.
    Ihr ist nicht in den Sinn gekommen, dass dies irgendetwas anderes als ein Stadtpark sein könnte.
    »Das hier ist wirklich schön«, ruft sie ihm in ihrem ruhigsten und freundlichsten Tonfall zu. »Sie pflegen es so gut.«
    »Danke«, sagt er. »Sie können sich gerne hier ausruhen.«
    Und teilt ihr durch den leisen Sarkasmus in seiner Stimme mit, dass dies kein Park, sondern Privatbesitz ist und dass er selbst kein Stadtangestellter, sondern der Eigentümer ist.
    »Ich hätte Sie um Erlaubnis bitten müssen.«
    »Schon gut.«
    Er ist beschäftigt, beugt sich vor und beschneidet eine Pflanze, die auf den Weg vordringt.
    »Das gehört Ihnen, nicht wahr? Alles?«
    Nach einiger Geschäftigkeit: »Alles.«
    »Ich hätte es merken müssen. Zu phantasiereich, um öffentlich zu sein. Zu ungewöhnlich.«
    Keine Antwort. Sie möchte ihn fragen, ob er nicht selbst gerne abends hier sitzt. Aber lieber nicht. Er scheint nicht sehr umgänglich zu sein. Wahrscheinlich einer von denen, die sich darauf auch noch etwas einbilden. Sie wird noch einen Augenblick sitzen bleiben, sich dann bei ihm bedanken und aufstehen.
    Doch stattdessen kommt er nach einem Augenblick und setzt sich neben sie. Er spricht, als wäre ihm eine Frage gestellt worden.
    »Eigentlich fühle ich mich nur wohl, wenn ich etwas tue, was erledigt werden muss«, sagt er. »Wenn ich mich hinsetze, darf ich nichts anschauen, sonst sehe ich sofort noch mehr

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