Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
kleines Stück, auf der anderen Seite. Ich weiß nicht, ob es da einen hauseigenen Arzt gibt, aber man kann eigentlich davon ausgehen.«
»Eigentlich ja«, sagt sie. »Man kann davon ausgehen.«
Dann hofft sie, dass er nicht denkt, sie hätte seine Worte absichtlich wiederholt, als dummen Witz. Es ist wahr, sie möchte gerne weiter mit ihm reden, dumme Witze hin oder her.
Doch jetzt kommt ein weiteres ihrer Probleme – sie muss überlegen, wo die Schlüssel sind, wie sie es oft tut, bevor sie ins Auto steigt. Regelmäßig fragt sie sich besorgt, ob die Schlüssel im verriegelten Auto stecken oder ob sie sie irgendwo verloren hat. Sie spürt das Nahen der vertrauten, lästigen Panik. Aber dann findet sie die Schlüssel in ihrer Tasche.
»Es ist einen Versuch wert«, sagt er, und sie stimmt zu.
»Dort ist genügend Platz, um von der Straße herunterzufahren und sich umzuschauen. Wenn ein Arzt regelmäßig dort draußen ist, besteht keine Notwendigkeit, dass er ein Schild in der Stadt aufstellt. Oder sie, je nachdem.«
Als hätte auch er es nicht eilig, sich zu trennen.
»Ich muss Ihnen danken.«
»Nur so eine Ahnung.«
Er hält ihr die Tür auf, während sie einsteigt, dann wartet er, bis sie gewendet hat, um in die richtige Richtung zu fahren, und winkt zum Abschied.
Auf ihrer Fahrt aus der Stadt hinaus sieht sie ihn noch einmal im Rückspiegel. Er beugt sich vor und spricht mit den beiden Jungen oder jungen Männern, die mit dem Rücken an der Wand des Ladens auf dem Pflaster sitzen. Vorher hatte er sie in einer Weise missachtet, dass sie überrascht ist, ihn jetzt mit ihnen reden zu sehen.
Vielleicht, um eine Bemerkung, einen Witz über ihre Zerstreutheit oder Begriffsstutzigkeit zu machen. Oder einfach nur über ihr Alter. Ein Punkt gegen sie, selbst in den Augen des nettesten Mannes.
Sie hatte vorgehabt, durch den Ort zurückzufahren, um ihm zu danken und ihm zu sagen, ob es der richtige Arzt war. Ein wenig abzubremsen und lachend aus dem Fenster zu rufen.
Aber jetzt denkt sie, sie wird einfach die Uferstraße nehmen und ihm aus dem Weg gehen.
Vergiss ihn. Sie sieht die Kieshalde näher kommen, sie muss sich aufs Fahren konzentrieren.
Genau, wie er gesagt hat. Ein Schild. Das Seniorenheim Seeblick. Und man hat von hier wirklich Aussicht auf den See, auf ein blassblaues Band am Horizont.
Ein großzügiger Parkplatz. Ein langer Flügel mit getrennten Wohneinheiten oder zumindest geräumigen Zimmern mit eigenen kleinen Terrassen oder Balkonen. Ein Zaun aus hölzernem Gitterwerk vor jeder Einheit, ziemlich hoch zum Schutz der Privatsphäre oder einfach nur zum Schutz. Obwohl, soweit sie sehen kann, niemand noch draußen sitzt.
Natürlich nicht. In diesen Einrichtungen wird früh zu Bett gegangen.
Ihr gefällt das Gitterwerk, es verleiht dem Ganzen etwas Phantasievolles. Öffentliche Gebäude haben sich in den letzten paar Jahren verändert, ebenso wie Privathäuser. Der kompromisslose, schmucklose Stil – der einzige, der in ihrer Jugend erlaubt war – ist verschwunden. Hier hält sie vor einer hellen Kuppel, die nach freundlichem Empfang aussieht, nach fröhlichem Übermaß. Manche Leute würden das für Chichi halten, vermutet sie, aber ist das nicht genau das, was man möchte? So viel Glas muss doch die alten Leute aufheitern, oder vielleicht sogar manche Leute, die nicht so alt, aber neben der Kappe sind.
Sie hält Ausschau nach einer Klingel, einem Knopf, auf den sie drücken muss, als sie auf die Tür zugeht. Aber das erweist sich als überflüssig – die Tür öffnet sich von selbst. Und sobald sie hineingelangt ist, begegnet ihr noch großzügigerer Umgang mit Raum und Höhe, auch durch eine blaue Tönung im Glas. Der Fußboden besteht ganz aus silbrigen Steinplatten, die Sorte, auf der Kinder gerne schliddern, und für einen Augenblick stellt sie sich Patienten vor, die zum Spaß herumrutschen und -schliddern, und die Vorstellung stimmt sie fröhlich. Natürlich kann der Boden nicht so glitschig sein, wie er aussieht, denn man will ja nicht, dass sich die Leute den Hals brechen.
»Ich habe mich nicht getraut, es selber zu probieren«, sagt sie mit koketter Stimme zu jemandem in ihrem Kopf, vielleicht ihrem Mann. »Das hätte sich nicht gehört. Ich wäre womöglich genau vor dem Arzt gelandet, der gerade meine Zurechnungsfähigkeit überprüfen soll. Und was hätte der dann wohl gesagt?«
Gegenwärtig ist kein Arzt zu sehen.
Wie denn auch? Ärzte sitzen nicht am Empfang und
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