LIEBES LEBEN
sechsundfünfzig. »Danke, Mama.« Ich schaue zu, wie sie meinem Vater seinen Kaffee bringt, und meine Gedanken schweifen ab. Brea hat geheiratet und ist damit weg. Meine Familie kennt mich gar nicht wirklich, und ich bin eingetragenes Mitglied der Silicon-Valley-Ewigkeitssingles. »So habe ich mir mein einunddreißigstes Lebensjahr nicht vorgestellt.«
»Was meinst du, Schatz?«
»Ich brauche eine neue Frisur«, verkünde ich. Sie lächelt ihr »oh-wie-nett«-Lächeln. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Backe und bereite mich nach dem kurzen Besuch in dieser anderen Realität auf die echte Welt da draußen vor. Oh ja, Mama, jetzt kommen die Ingenieure, der frisch geröstete Kaffee und der schleppende Verkehr. Montagmorgen im Silicon Valley: Los geht’s!
4
Es ist sieben Uhr morgens, und ich schleppe all die Aktenstapel aus meinem Auto in mein Büro. Jim Bailey, der Botenjunge, rettet mich am Eingang.
»Ashley, wie war dein Wochenende?« Dabei schnalzt er und zwinkert mir zu. »Hast du es getan?«
Dafür ist es eindeutig noch viel zu früh. In welchem Männerhandbuch steht eigentlich, dass Frauen so angesprochen werden wollen? Dieses Buch muss ich kriegen und es dann in die Rubrik »Wie man garantiert nie eine Frau findet« stellen.
»Es? Was soll das sein, Jim?« Ich klimpere unschuldig mit den Wimpern. Nicht umsonst bin ich in diesen heiligen Hallen als Kirchenmaus bekannt. Man muss ihm zugutehalten, dass er deutlich errötet und sein Sommersprossengesicht rot wird wie eine reife Tomate.
»Nimm’s nicht so ernst, ich wollte nur freundlich sein. Hast du schon was für die Post?«
Ich schüttle den Kopf. »Noch nicht.« Ich sehe zu, wie er sich davonschleicht, und fühle mich schuldig. Ich wollte ihm sein John-Wayne-Gefühl nicht nehmen. Ich mag vielleicht altmodisch sein, aber ich mag es einfach nicht, wenn man mich fragt, ob ich es dieses Wochenende getan habe. Ist das zu viel verlangt? Aber jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil er sich wegen mir schämt. Und ich höre schon die Stimme meiner Mutter, die mich zurechtweist, weil ich mal wieder vorschnell geurteilt habe.
Purvi Sharma, meine Chefin, tänzelt mit einem ähnlich großen Stapel A4-Umschläge herein, wie der, den ich mit nach Hause genommen hatte, und lässt ihn auf meinen Schreibtisch fallen.
»Was ist los mit Jim? Hast du ihn wieder geärgert?«, meint sie lachend. Purvi ist eine wunderbare Chefin. Sie kommt aus Indien, ist froh, in Amerika zu sein, und versteht es, aus jedem Tag und jeder Situation das Beste zu machen.
Sie lässt sich nicht von nervösen Vorstandsmitgliedern provozieren, wenn sie etwas brauchen. Nachdem sie gesehen hat, wie Menschen in Kalkutta auf der Straße sterben, ist Technikpatente schreiben für sie wie Liegestühle auf der Titanic ordnen. Sie lässt sich nicht stressen. Allerdings lässt sie sich meistens nur deshalb nicht stressen, weil sie den Stress auf mich abwälzt. Trotzdem wünschte ich mir, ich hätte ihre innere Ruhe. Nicht ihre arbeitssüchtigen, kranken Überstunden, aber ihren inneren Frieden.
Wenn zu mir ein Vorstandsmitglied ins Büro kommt, dann bekomme ich die Krise, weil ich Angst habe, dass ich einen Termin nicht einhalten kann und dass uns dann eine andere Firma das Geschäft wegschnappt, weil ich mich nicht genug für die Anerkennung eines Patentes eingesetzt habe. Meine Welt bricht zusammen, als wäre das der Untergang der heutigen Technik - ja sogar der ganzen Menschheit.
Ich muss wirklich mehr raus.
Purvi hat einen Sohn von ihrem Mann, der immer noch in Indien lebt, und alles dreht sich um diesen Jungen. Es gibt vieles, was man an Purvi bewundern kann, aber ihre Einstellung, was sexuelle Belästigung angeht - und die Bemerkungen des Botenjungen –, stammt eindeutig aus lang vergangenen Zeiten und zählt nicht zu ihren guten Seiten. Sie denkt, sexuelle Belästigung sei etwas typisch Amerikanisches, und findet es lächerlich. Einen Mann verklagen, weil ihm auffällt, dass eine Frau hübsch ist und er eine dumme Bemerkung macht? Das gibt es nur in Amerika. Nur in Amerika. In meinem Land müsste er der Familie der Frau viele Kühe geben, die Frau würde ihre Familie verlassen und Ende der Geschichte. Damit wäre der Fall abgeschlossen.
Aber andererseits gibt es in ihrem Land auch Gebiete, in denen eine Frau jedes Stückchen Haut bedecken und ein paar Schritte hinter ihrem Mann gehen muss. Aber ich sage nichts über diesen Widerspruch. Und auch nicht darüber, dass sie gar nicht in ihrem
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