LIEBES LEBEN
sich, als amüsiere er sich über die Ahnungslosigkeit seines Freundes.
»Heute Abend schauen wir uns Matrix an, Ash. Hast du Lust, rüberzukommen?«
»Nein, danke. Ich bin heute zum Abendessen bei meinen Eltern.« Mein Geburtstagsessen . Ich sage nicht, dass ich rechtzeitig zur Masterpiece-Serie wieder daheim sein werde oder dass ich Matrix blöd finde. Das wäre in diesen Breiten gotteslästerlich. »Habt ihr das Leben hier im Silicon Valley eigentlich nie satt?«
Wir stehen gerade an einer Ampel, und die beiden drehen sich um und starren mich an, als hätte ich Schlagsahne auf der Nase.
»Wie meinst du das?«, fragt Sam.
»Ich meine, wir tun immer nur die gleichen Dinge. Wir gehen zum Coffeeshop, sehen immer die gleichen Filme, wir - mir fällt ja schon nicht einmal mehr ein, was wir noch tun. Wir sollten einen Ausflug zum Strand planen und ein wildes Volleyball-Turnier veranstalten oder so etwas.«
Es ist grün, aber die beiden starren mich immer noch an. »Mit Verlaub, aber Matrix ist eine Allegorie und hat sehr viel Bedeutung.«
»Trotzdem haben wir den Film schon ein paar Mal gesehen«, halte ich halbherzig dagegen. Ich habe das Thema angefangen. Jetzt kommen die wirklich tiefen Gespräche - zum Beispiel darüber, warum Spock, der als Vulkanier keine Gefühle hat, sich in Star Trek Genesis trotzdem opfert, um die Menschheit zu retten.
»Möchtest du lieber ›Herr der Ringe‹ sehen?«, fragt Seth.
Ich kann mir einen hörbaren Seufzer nicht verkneifen. »Nein. Ich bin bei meinen Eltern. Egal. Ich habe nur laut gedacht.«
Seth verzieht das Gesicht. Er versteht nicht, was ich heute für ein Problem habe, und ich kann mein eigenes Desinteresse am Leben um mich herum auch nicht ergründen. Ingenieure haben ihre eigene Sprache und ihre eigene Kultur. Ich beherrsche sie fließend, aber ich habe Angst, dass ich vielleicht kein normales Englisch mehr kann, wenn ich jemals von hier weggehe. Oder dass ich nur noch über den Kampf um Mittelerde diskutiere. Das hier ist mein Volk.
»Vielleicht brauchst du mal Urlaub, Ash«, meint Seth.
»Ja, vielleicht«, entgegne ich achselzuckend. »Aber ich kann jetzt keinen Urlaub nehmen. Wir sind gerade an sechs neuen Patenten dran. Vielleicht bekomme ich ja etwas dafür, wenn ich damit fertig bin ... vielleicht dreht meine Chefin dann nicht mehr so am Rad.« Aber innerlich habe ich nicht wirklich viel Hoffnung. Urlaub ist hier im Silicon Valley so eine Art Schimpfwort. Das gibt es nur für Schwächlinge und Arbeitslose. Man verdient gut im Silicon Valley, aber das kostbarste Gut ist trotzdem die Zeit, und die hat meine Chefin in der Hand. Und daher hat meine Chefin mich in der Hand.
In Urlaub zu gehen heißt, dass man sein Gehalt und sein Anrecht auf Belegschaftsaktien aufs Spiel setzt - und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass man beides hinterher immer noch vorfindet. Dem Strand auf Hawaii den Vorzug zu geben vor einem Arbeitsplatz kommt einem irgendwie verantwortungslos vor. Und einen neuen Job zu suchen, während sich die Wirtschaft nach dem E-Business Crash im Abwärtstrend befindet, ist kein Zuckerschlecken.
Als Roboter wäre ich für das Leben hier wohl besser geeignet. In vielerlei Hinsicht war mein Leben auch sehr mechanisch, aber jetzt ist es, als sei in mir irgendein Schalter umgelegt. Vielleicht liegt es an meinem Geburtstag. Ich bin wieder ein Jahr älter und weiser und so weiter. Ich weiß nur, dass mir die Farben um mich herum plötzlich bewusst sind, die wunderschönen sanften Hügel und die majestätischen Eichen. Es ist fast wie im »Zauberer von Oz«, wo plötzlich alles zum Leben erwacht, und da fällt mir auf, wie schwarz-weiß mein eigenes Leben ist. Mein Bankkonto sprießt und blüht plötzlich und verspottet mich mit seinem Chlorophyll-Grün, während mein eigenes Leben langsam verdorrt.
Wir sind bei meinem Auto angekommen, und die beiden Männer sehen mich immer noch an, als hätte ich einen ganzen Schwarm Fische verschluckt.
»Danke fürs Mitnehmen. Viel Spaß beim Film schauen.« Ich krabble aus dem Rücksitz und mache den Kofferraum meines Audis auf. Ich gebe zu, dass ich das nur tue, um zu sehen, ob sie warten, bis ich in mein Auto gestiegen bin. Natürlich tun sie das nicht, und ich muss unwillkürlich über die Komik dieser Situation lachen. Und so stehe ich auf dem Parkplatz vor unserer Gemeinde und sehe genauso abgedreht aus, wie ich bin.
Meine beste - und inzwischen verheiratete - Freundin Brea ist zufällig auch gerade auf dem
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