Liebesbrand
Nach einer Viertelstunde hörte es schlagartig auf zu regnen, die Sonne kam wieder durch, ich stieg ins Auto und fuhr
weiter. Kurz vor Hannover nahm ich die Ausfahrt, ich kam an Reihenhäusern vorbei, die im Vorgarten verrostete Rasenmäher oder
Kinderfahrräder als Denkmäler der Gemütlichkeit ausstellten, und es paßte auch ins Bild, daß die Wohnwagenprostituierte am
Dorfrand parkte, ein rot illuminiertes Neonherz prangte innen an der Windschutzscheibe, und als mich die Neugier das Tempo
drosseln ließ, machte sie ein Willkommenszeichen, sie drückte schnell ihre Brüste im BH zusammen, ich lief rot an und gab
Gas. Natürlich, ich war nicht besser als die Väter in den Einfamilienhäusern, sie hatten sogar mehr Mut als ich, denn sie
mußten unkonventionelle Wege gehen, nachts durch den Wald stapfen, einen großen Bogen um das Dorf machen, um nicht gesehen
zu werden, und vielleicht hielten sich die Männer an die Regel, daß man besser beraten war, wenn man die Ehefrau und die Wohnwagendirne
in Ehren hielt. |88| Es war interessanter, über Dorfdamen nachzusinnen, als einem geschwätzigen Radiomoderator zu lauschen, der alles lustig fand,
der Liebende war lustig, der Hassende war lustig, und Tote und Verletzte kamen in den Nachrichten vor, sie wurden wenigstens
erwähnt.
Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf das Nienburger Ortsschild, mein Herz klopfte plötzlich wie verrückt, ich wurde
angehupt und bog an einer Unterführung nach links ab und folgte dem Straßenverlauf, ein Schild wies den Weg zur Historischen
Altstadt, dann befand ich mich auf einer Straße, die nach dem Nordertor benannt war, vielleicht, dachte ich, war diese Kleinstadt
im Mittelalter eine einzige Festung, und man wehrte die Strauchdiebe und Landsknechte mit Spatzenschleudern ab. In der Festung
reihten sich heute Foto- und Bräunungsstudios, Banken und Apotheken aneinander, ich fuhr Schrittempo, denn ich glaubte nicht
nur an das Gefühl auf den ersten Blick, ich glaubte auch an die Auferstehung der Toten, deren Gebeine in ihren mit Nippes
vollgestellten Wohnungen auf einen Ruf hin sich zu warmen Körpern ordnen und formen, und sie zerschlagen ihr Porzellan vom
Flohmarkt, und sie leeren die Besteckkästen mit dem Familiensilber und flüchten ins Freie. Ich glaubte an ein kleines Wunder,
von der Haarspange in meinem Besitz bis zu der schönen Frau mußte es einen direkten Weg geben.
Plötzlich wurde ich durchgeschüttelt, ich hatte bei der Einfahrt in das Parkhaus den Fuß nicht vom Gaspedal genommen, und
das Auto krachte über die Temposchwelle kurz vor der Schranke. Ich löste einen Schein, fuhr in großen Schleifen hoch bis zum
dritten Stock und fand endlich eine Parklücke. Wenig später ging ich langsam durch die Fußgängerzone, ich machte immer wieder
halt und musterte verstohlen die Frauen, |89| sie hatten Regenschirme aufgespannt und hielten sie schräg gegen den Nieselregen, ich streifte mir die Kapuze über den Kopf,
mein Sichtfeld war eingeschränkt, doch ich wollte nicht schon wieder fiebern. Eine Bäkkerei bot original Nienburger Biskuit-Kuchen,
sie hießen hier Bärentatzen, und eine abgehackte Bärentatze mit vier Krallen fand sich auch im Stadtwappen, neben einem Tor
mit Fallgatter, drei Spitztürmen und einem Löwen, der von neun Herzen umgeben war. Natürlich suchte ich, wie jeder schlecht
informierte Tourist, erst das Stadtkontor und dann die Tourismuszentrale auf, und während ich die Prospekte einsammelte, fiel
mein Blick auf Waldfruchtlikörflaschen, die man in einer ordentlichen Reihe auf dem Aktenschrank aufgestellt hatte, das Etikett
wies den Branntwein als ›Sensenschluck‹ aus. Seltsam, diese Kleinstädter, aber nicht seltsamer als Großstädter, die wegen
einer flüchtigen Begegnung anreisen, um … was zu finden? Das Glück? Die Herrlichkeit, die einem an der nächsten Straßenecke
widerfährt? Ich wurde konservativ, wenn ich erkältet war, ich trug dunkle Kleidung, ich wollte, daß alles blieb, wie es war,
daß sich aber gleichzeitig alles zum Besseren wendete, und in dieser komischen Verfassung lief ich an Skulpturen vorbei, es
waren in Bronze gegossene Figuren, Glasmacher, Spargelbauern und ein halbnacktes Mädchen, bei dem es sich, nach dem Stadtführer,
um ›die kleine Nienburgerin‹ handelte. Ich klappte den Prospekt zu und verfluchte mich innerlich – was tat ich eigentlich,
ich war nicht hierhergefahren, um die in Wegweisern
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