Liebesdienst
hierhergebracht hatte. Eine sehr dicke Frau in einem Reitkostüm hockte mit gespreizten Beinen auf seinem Gesicht und las die Reitsportnachrichten in einer Zeitung.
»Kommst du mit nach Hause?«, rief Marisa zu ihm hinunter.
Er konnte nicht antworten.
»Macht nichts«, sagte sie. »Ich kann auch alleine gehen, wenn dir das lieber ist. Klopf einmal auf den Boden, wenn du noch bleiben willst, zweimal, wenn ich warten soll.«
Der Mann klopfte einmal. »Gut«, sagte Marisa. »Dann sehen wir uns nächste Woche im Geschäft.«
Sie war nicht im Geringsten schockiert. Keine Spielart der Sexualität wurde von ihr belächelt oder abgelehnt. Die Menschen machten das, was sie machen wollten. Sie selbst dagegen, wie sie ihrem Tagebuch anvertraute, konnte ihren Körper ebenso wenig ungehemmt hingeben, wie sie sich ungehemmt bei den pikanten Snacks bedienen konnte.
Sie war weder frigide noch zurückhaltend oder gar unfähig zum Orgasmus. Sie dachte nicht groà darüber nach, ob es eine sinnliche Erfahrung gab, auf die sie verzichten oder die sie weiter vertiefen sollte. Was Frauen fühlen sollten, fühlte sie. Was sie fühlen sollte â möglicherweise etwas ganz anderes â, fühlte sie. Das alles jedoch beschäftigte sie nicht über den Moment hinaus, in dem sie das Gefühl hatte, etwas zu fühlen. Jedes war ein Ereignis für sich, sie freute sich weder darauf, es mit anderen zu vergleichen, noch betrieb sie Rückschau.
Insofern war der einzige Bereich, in dem sie sich überhaupt innerlich mit Aspekten dieser Niederungen ihrer Existenz beschäftigte, die Konversation. Sie schätzte Eloquenz bei Männern und hätte mit einem, dessen Geist in ihr keine Neugier oder Amüsement weckte, egal, welche Reize er sonst zu bieten hatte, niemals körperliche Intimität gesucht, es sei denn, er wäre der beste Tänzer der Welt. Sie musste einen Mann wirklich mögen, um körperliche Flüssigkeiten mit ihm auszutauschen, doch bevor sie ihn mögen konnte, musste sie sich geistig mit ihm austauschen.
Manchmal dachte sie abends an den Mann, neben dem sie tagsüber gelegen hatte, manchmal nicht. Dieses An-ihn-Denken stand in keinem direkten Zusammenhang mit einer sexuellen Erregung, die sie erfahren hatte. Vielleicht hatte etwas, was sie sich aus ihrem Leben erzählt hatten, sie fasziniert, eine Idee, ein Satz. Gerne hörte sie auch zu, wenn die Männer von ihrer Arbeit berichteten. Oder wo auf der Welt sie schon überall gewesen waren. Auch hatte sie überhaupt nichts dagegen, wenn die Männer von ihren Ehefrauen erzählten, solange Letztere nicht verteufelt oder aus Rücksicht auf sie, Marisa, abgetan wurden. Sie konnte mit einem Mann schlafen, auch wenn der Mann seine Ehefrau liebte. Notfalls hätte sie vermutlich sogar zugestimmt, dass ein Mann, der seine Frau liebte, immer die bessere Wahl war. Bei ihm bestand nicht die Gefahr, dass er eines Tages mit feuchten Augen und Fluchtgepäck vor ihrer Haustür stand.
In dieser Hinsicht könnte man sie als konservativ bezeichnen, wenn nicht sogar reaktionär, was die Institution Familie anging. Sie wollte immer, dass alle zusammenblieben. Es war ihr keineswegs fremd, auch an die Kinder ihrer Liebhaber zu denken, falls sie mal Fotos von ihnen gesehen hatte oder sie ihr auf andere Art und Weise nahegebracht worden waren. Mehr als einmal überlegte sie, »etwas für sie zu tun« â steuerte etwas zu ihrer Ausbildung bei oder richtete ein Treuhandkonto für sie ein. Vielleicht war das für sie eine Möglichkeit, das Fehlen jeglichen eigenen mütterlichen Instinkts in ihr zu kompensieren, was sie natürlich der schlechten Elternschaft zuschrieb, der sie selbst ausgesetzt gewesen war.
Die Männer, denen sie heimlich ihre MuÃestunden widmete, waren nur im wörtlichen Sinn heimlich und bedienten kein unbewusstes Bedürfnis oder unerwidertes Begehren â auÃer der Freude, die sie an Geheimnissen fand. Sie lieÃen sich mit ihrem sonstigen Leben vereinbaren. Sie hätte sie nach Hause zum Essen eingeladen, allein die Konvention, dass sich so etwas nicht gehörte, hielt sie davon ab. Für ihre Männer galt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Sie mochte sich mit ihren Ehen auseinandersetzen, mit ihren Kindern, selbst mit ihren beruflichen Aussichten â keinesfalls jedoch wälzte sie, wenn sie abends mal nicht einschlafen konnte, solche
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