Liebesdienst
vorlas, war schon nackt unterm Mantel, wenn sie ankam. Er half ihr aus dem Mantel, wobei kein Wort gewechselt wurde. Er wusste, dass sie nackt war. Blinde riechen so etwas. Ich spreche nicht von den natürlichen Ausdünstungen oder Absonderungen des Körpers, auch nicht von Marisas Parfüm, der Blinde roch ihre Nacktheit an sich. In der Dunkelheit â in seiner eigenen Dunkelheit, aber auch in der Dunkelheit des Zimmers, denn die Räume der Blinden stellen wir uns auch immer als düster und sichtlos vor â roch er die abstrakte Idee von Nacktheit. Aber er berührte Marisa nie. Dann las sie ihm vor. Und sanft, unter dem Teppich ihrer Worte, spürte sie das Ein und Aus seines Atems auf ihrer nackten Haut. »Und ihr Schwellgewebe?« Sie stellen zu viele Fragen, Leser.
Eine Stunde später half der Blinde Marisa wieder in den Mantel, wobei er es peinlich vermied, sie zu berühren. Sie ging nach Hause, und sie vergaÃ. Marius? Wer war Marius?
Sehr viel interessanter war die Frage â jedenfalls was mich betraf: Wo war Marius? Tagelang verlieà er seine Wohnung nicht, zumindest nicht in der Zeit, in der ich auf meinem Posten war. In dem Käsegeschäft wurde er ebenfalls nicht gesichtet, und keine Spur von ihm bei den wenigen Malen, die ich mich seit unserer Schatzsuche ins Museum verirrte. Ich fragte Andrew, ob er etwas gesehen oder gehört habe, doch auch er konnte nichts Neues berichten. Sie seien, erinnerte er mich, keine Busenfreunde. Marius hatte keine Busenfreunde.
Eines Morgens hielt ein Taxi vor seinem Haus, als ich gerade die StraÃe entlangschlenderte. Vermutlich sollte es ihn zum Kunstflohmarkt im Hyde Park bringen. Marius kam mit Pappkartons voll gerahmter Gemälde die Treppe herunter, sah sich das Wetter an, erschnupperte anscheinend den sich ankündigenden Regen und schickte das Taxi wieder fort. Später â der Regen hatte sich verzogen, die Sonne schien, und eine frische Brise wehte durch Marylebone â sah ich ihn beim Kaffeetrinken in der High Street. Es war vier Uhr, Mariusâ Vampirstunde. Sein Gesicht sah aus wie abgeriegelt von allem menschlichen Treiben. Gut möglich, dass der Taxifahrer der einzige Mensch war, mit dem er gesprochen hatte, seit Marisas Herausforderung an ihn ergangen war.
Tod und Begehren waren die Themen gewesen, über die wir bei unserer ersten und bisher einzigen Begegnung gesprochen hatten. Und da ich auch heute an ihm den Geruch des Todes wahrnahm, scheute ich mich nicht, mich an seinen Tisch zu setzen und uns auf Begehren zu lenken. Als Gesprächsthemen, meine ich, und nicht etwa das körperliche Verlangen einer Art, die wohl keiner von uns beiden für den anderen hegte.
(Ein paar Worte hierzu. Ich muss mich fragen â wenn ich es nicht tue, tut es bestimmt jemand anders â, ob nicht ich derjenige bin, der nach Marius lechzte, unterschwellig und vielleicht sogar nicht einmal unterschwellig, stellvertretend für meine Frau; oder der sich wenigstens danach sehnte, Puppe genannt zu werden, so wie Marius die Käseverkäuferin genannt hatte. Immerhin habe ich es registriert und thematisiert. Doch alles in allem, selbst eingeräumt, dass ich in mancher Hinsicht passiver bin, als ein Mann sein soll, muss ich sagen: Ich bezweifle das. Ich konnte in mir keinerlei Ambition entdecken, mit Marius das Bett zu teilen, oder Puppe von ihm gerufen zu werden â keine Ambition, eine Puppe zu haben, wie eine Puppe auszusehen oder jemandes Puppe zu sein. Ich bin kein Mann, den man mit dem Begriff Puppe in Verbindung bringt. Aber da meiner Form devianten Verhaltens häufig homoerotische Gefühle als zugrunde liegende Motive untergeschoben werden, möchte ich hiermit zeigen, dass ich diese Diagnose angemessen zu würdigen weiÃ. Könnte also sein â ist aber nicht so; auch wenn natürlich jede Devianz den Kern aller anderen in sich birgt.
Dass ich für die in Mariusâ Wortschatz verborgenen Kränkungen und Zärtlichkeiten sozusagen substituzionell empfänglicher war, als mir guttat â geschenkt. Würde Marius den Ausdruck Puppe in Gegenwart von Marisa verwenden, ich müsste gestehen, es wäre, als würde jemand mit langen Fingernägeln in meinem Magen herumtasten. Nichts, was man sich je gewünscht hätte, bis es schlieÃlich passiert. Und dann beginnt man zu überlegen, ob man es sich vielleicht noch mal wünscht. Aber es war ein rein hypothetisches
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