Liebesdienst
einer mit Milton-Kacheln ausgelegten Nische am fernen Ende des ehemaligen Rauchsalons zieht seit Jahren ein milchigweiÃer Amor aus sizilianischem Marmor die Aufmerksamkeit aller Besucher der Wallace Collection auf sich, ganz gleich weshalb sie das Museum besuchen. Amor ist ein Knabe mit ausgestellten Flügeln, der einen Pfeil aus seinem Köcher zieht. Sieg der Liebe heiÃt das Kunstwerk, obwohl mir ein flatterhafter Amor noch nie als angemessenes Sinnbild für die Liebe erschienen war, die einen in die Unterwerfung zwingt. Um den Sockel der Skulptur verläuft ein Spruchband, eine Hymne auf den Würgegriff der Liebe, alles andere als flatterhaft, aus der Feder Voltaires:
Qui que tu sois voici ton maître
Il lâest, le fut, ou le doit être.
(Wer du auch seist, sieh den Gebieter dein.
Er ist es, er war es oder muss es sein.)
Sieh den Gebieter dein â doch die Statue war nicht der gesuchte Ort, denn sie bot keinen erkennbaren Platz für ein Versteck, in dem sich eine Botschaft aus Marisas Hand hätte befinden können. Unmittelbar neben der Statue war eine Treppe, wohl privat, wenigstens schien sie selten benutzt zu werden. Mir jedenfalls war sie bei all meinen Besuchen in dem Museum nie aufgefallen. Sofort erschnüffelte ich Marisas Gegenwart. Sie war unverkennbar. Sie überwältigte mich wie der Duft eines Parfüms. Männer, die von einer Frau beherrscht werden, können mit Bestimmtheit sagen, ob sich diese Frau in einem Raum aufgehalten hat oder nicht. Für sie wirkt ihr Eindruck noch lange nach wie Atemhauch an einem Spiegel oder die Erinnerung an einen Traum, der sich bei Tag nicht abschütteln lässt. Obsession gebiert Geister, und Marisas Geist, in seiner ganzen Rastlosigkeit, war hier. Nicht allein das Geisterhafte ihrer Person, sondern auch des fatalen Spiels, das sie spielte. Ich konnte es riechen, es war durchdringender als mein eigener AngstschweiÃ. Nicht nur ihre Kleidung, ihr Haar und ihr Atem, nein, auch der abseitige Zweck, der sie hergeführt hatte. Sie war die Treppe hochgegangen, in den schwach erleuchteten Raum, Stufe für Stufe, ihr Vorhaben fest im Auge, wissend, was sie hinterlegen wollte, wo sie es hinterlegen wollte und was folgen würde, sollte es entdeckt werden.
Ich kämpfte gegen meine eigene Ungeduld an. Es wurde spät. Ich wollte nicht, dass ausgerechnet in dem Moment, wenn ich meine Hand auf den Gegenstand legte, der nicht für mich bestimmt war, der Gong ertönte, mit dem die SchlieÃung des Museums angezeigt wurde. Doch auch wenn der Nachmittag noch nicht so weit fortgeschritten gewesen wäre, hätte ich genauso gehandelt, hätte der kleineren Versuchung um der gröÃeren willen widerstanden. Denn die gröÃere Versuchung war, noch eine Nacht im Ungewissen zu verbringen.
Der Subspace lockte mich â diese nirwanagleiche Stille der vollständigen Unterwerfung, die ich bislang nur in Marisas Abwesenheit praktiziert hatte, doch in die ich heute Abend mit ihr an meiner Seite eintreten würde. Darin lag eine gewisse Blasphemie, aber es war Blasphemie im Namen einer höheren Form der Verehrung.
Am Tag darauf, obwohl ich kaum geschlafen hatte (wie gesagt, Subspace ist nichts zum Schlafen), war ich am Museum, noch bevor es öffnete. Mit einem Herz, das so klopfte, dass es für zehn Menschen gereicht hätte, nahm ich Witterung auf, folgte Marisas verwegenen FüÃen auf all ihren Wegen und atmete, als wäre es ein Gift, das zu nehmen mir beschieden war, den Ruch ihrer Schamlosigkeit ein.
*
Zwischen belanglosem Zeug, das nicht der Rede wert ist, blicken sich von gegenüberliegenden Wänden über der Treppe zwei kleine Bilder an, die den Betrachter aufgrund des Kontrastes sofort fesseln. Die Werke sind zu unbedeutend, um strenge Sicherheitsvorkehrungen zu rechtfertigen, und beide Bilder bieten genügend Platz hinter ihren Rahmen, um eine Karte zu verstecken, einen Brief, sogar ein Päckchen. Das eine Bild, Bibellektüre, von dem französischen Maler Hugues Merle aus dem neunzehnten Jahrhundert, zeigt zwei junge Mädchen mit einer Art Quäker-Haube auf dem Kopf, denen eine dritte Person aus der Bibel vorliest. Zwei Minderjährige, wenn man so will, also auch in dieser Hinsicht fesselnd. Das Bild bietet sonst nicht viel Aufregendes, wenn man es nicht in Zusammenhang mit dem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand bringen würde und wenn man nicht wüsste, dass
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