Liebesgruesse aus Deutschland
Haus die Radioaktivität. Sie war tatsächlich unnatürlich hoch, an manchen Stellen sogar höher als in Japan. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass der Geigerzähler kaputt oder falsch eingestellt war. Eine andere Erklärung halte ich persönlich für ebenso denkbar – dass man immer genau die Situation schafft, vor der man am meisten Angst hat. So hat mein Nachbar aus Angst vor möglicher Radioaktivität selbst angefangen zu strahlen. Und während man mit dem schlimmsten Unwahrscheinlichen rechnet, passiert wahrscheinlich etwas noch viel schlimmeres Wahrscheinliches.
Eine Nachricht aus dem Nordkaukasus bestätigte mir kürzlich diese pessimistische Weltsicht. Ein Agrarbetrieb in Südrussland meldete, eine Schafherde sei von Wölfen angegriffen und vollständig getötet worden. Die angriffslustigen Wölfe sind dort in der Gegend neu, man munkelt, sie würden, wie alles Gefährliche in der letzten Zeit, aus Tschetschenien kommen. Dort wurden sie aus ihrem natürlichen Lebensraum vertrieben, wo sie seit Jahrhunderten weiße Hasen gejagt hatten. Aber nun soll in dieser Gegend ein großer Kurort mit mehreren Sanatorien für übermüdete Staatsbeamte entstehen. Die Wölfe, von
Bauarbeiten zunehmend terrorisiert, mussten ihre Heimat verlassen und siedeln sich nun bevorzugt in der Nachbarschaft von Tierfarmen an. Besonders die Nähe zu Schafen scheint sie zu beruhigen, schließlich schafft sie eine neue Lebensperspektive.
Die Meldung über das tragische Schicksal der Herde beschäftigte die für die Tiere zuständige Behörde sehr. Natürlich waren es nicht die ersten Tiere, die den Farmern auf diese unschöne Weise verloren gegangen waren. Es passierte immer wieder, dass ein Wolf eine Herde angriff und mal das eine oder andere Schaf dran glauben musste – aber doch nicht gleich eine ganze Herde! Für die Experten war es unvorstellbar, dass die Wölfe dreihundert Schafe auf einmal getötet hatten. Man bezichtigte den Hirten der Mittäterschaft. Er schwor bei Gott, keinem einzigen Schaf je etwas zuleide getan zu haben, außerdem sei er seit zwölf Jahren Vegetarier. Es wurde eine Kommission gebildet, um Licht in diesen Vorfall zu bringen. Einige erfahrene Schafkenner machten sich auf den Weg, um sich vor Ort ein Bild von der Katastrophe zu machen. Sie stellten fest, dass nur drei Schafe von Wölfen angegriffen worden waren, die restlichen 297 waren aus Angst, von den Wölfen getötet zu werden, in einen Abgrund gestürzt. In rasender Geschwindigkeit hatte Panik die komplette Herde erfasst. Doch warum weideten die Schafe überhaupt an einem solch gefährlichen Ort, am Rande einer vierzig Meter tiefen Schlucht?, fragten sich die Experten. Die Schafe waren ebenfalls wie die Wölfe aus ihrem bisherigen Lebensraum vertrieben worden – von einer Militäreinheit,
die sich dort einen Schießübungsplatz gebaut hatte. Die Armee sei an allem schuld, meinten die Experten. »Wir doch nicht!«, verteidigten sich die Offiziere. »Irgendwo müssen die Soldaten doch schießen lernen. Wir wurden schließlich auch vertrieben, unsere natürlichen Lebensräume wurden uns entzogen. Da, wo wir früher geschossen haben, dürfen wir nicht mehr schießen, weil sich in der Nähe jetzt ein Kurort für besonders übermüdete Beamte befindet.«
So schließt sich der Kreis. Er ist wie alles im Leben eine Sackgasse, und niemand weiß, wie man dieses Dilemma lösen kann. Die Wölfe hungern, die Schafe sind tot, und die Soldaten können nicht richtig schießen. Was lehrt uns diese Geschichte? Eigentlich nichts. Nur dass man besser ruhig bleiben sollte, wenn man schon am Abgrund weidet.
Deutsche Möbel
Mein letzter Trip nach Moskau war sehr kurz, er dauerte nur zwei Tage. Statt russische Buchhandlungen nach neuer ansprechender Literatur zu durchstöbern, verbrachte ich beide Tage in Gesellschaft meiner ehemaligen Mitschüler aus jener Schule 701, die schon in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als wir sie besuchten, »Dummenschule« hieß – ein Name, dem ehemalige Mitschüler bei ihren Treffen immer wieder Ehre machten. Intellektuelle Unterhaltung war bei ihnen daher nicht zu erwarten. In unserem Fall stand der Besuch einer Striptease-Bar und eines Antiquitätengeschäfts, das mit deutschen Möbeln vollgestellt war, auf dem Programm. Zwei meiner ehemaligen Mitschüler waren wie ich freischaffend – »selbststehend«, wie es auf Russisch hieß. Der eine verdiente sein Brot als Antiquitätenhändler, der andere war ein
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