Liebesgruesse aus Deutschland
die Striptease-Bar, gingen aber noch nicht nach Hause, sondern in eine Bierbar, wo wir bis halb drei noch etliche Biere leerten und »Städte« spielten, ein altes Wortspiel aus der Dummenschule, in dem der eine Spieler eine Stadt ansagt und der nächste mit einer anderen Stadt parieren muss, deren Name mit dem letzten Buchstaben der vorherigen beginnt. Man darf dabei entweder auf nationaler oder internationaler Ebene spielen. Ich nutzte meine Stellung als ausländischer Gast und trumpfte mit deutschen Ortskenntnissen auf. Immerhin lebe ich seit
vielen Jahren in Deutschland und kenne viele Orte mit seltenen Namen. Viele russische Städte dagegen waren inzwischen umbenannt worden, sodass ich nur noch wenige kannte. Als mir keine russischen Städte mehr einfielen, die mit einem »A« begannen, sagte ich »Aachen«.
»Das hast du dir jetzt aber ausgedacht!«, lachten meine Freunde. »Aachen gibt es nicht!«
»Aachen gibt es! Ich schwöre!«, rief ich laut.
Meine Freunde taten so, als würden sie mir glauben. An anderen Stellen hatte ich allerdings im entscheidenden Moment so etwas wie »Vechta« oder »Ludwigsburg« oder »Wilhelmshaven« eingeworfen. Meine Mitspieler vertrauten mir daher immer weniger.
»Das hast du dir jetzt aber bestimmt ausgedacht, sag endlich die Wahrheit!«, drängte der Kalinka-Tänzer. Je glaubwürdiger ich schwor, desto mehr zweifelten meine Freunde. »Auf diese Weise kann doch jeder an jedes Wort hinten ein ›heim‹ oder ›hafen‹ anhängen, und schon hast du eine neue Stadt«, meinten sie misstrauisch.
»So etwas würde ich niemals tun«, versicherte ich, begeisterte mich aber heimlich sofort für diese Idee und sagte aus Spaß »Kaisersberg«, »Wilhelmsheim« und ganz am Ende sogar, völlig erfunden, »Wilhelmshelm«. Das haben sie mir merkwürdigerweise sofort geglaubt.
Ich ging spät zu Bett und träumte, ich wäre auf dem Rückweg nicht in Berlin, sondern durch eine mysteriöse Zugverwechslung in Wilhelmshelm gelandet. Die Bewohner dort waren überwiegend ältere Menschen, die Jungen waren wahrscheinlich alle weggezogen. Ein typisches
Schicksal deutscher Kleinstädte, dachte ich. Irgendwie kannten mich dort alle, Rentnerpaare grüßten mich auf der Straße schon von Weitem und lächelten mir freundlich zu. Einige sagten sogar ein paar Begrüßungsworte auf Russisch, und alle fragten mich höflich, wann sie nun endlich ihre Möbel zurückbekommen würden.
Die Altlastenablagerungsstellen
Der Gesundheitswahn breitet sich wie ein Virus in Deutschland aus. Überall auf den Straßen laufen einem Menschen in Sportanzügen entgegen, die besorgt auf die Uhren schauen und selbst vor einer roten Ampel auf der Stelle herumzappeln. Sie können keine Sekunde lang stehen bleiben. Die Autos in der Stadt dürfen keine Gifte mehr ausstoßen, im Lebensmittelladen wird nicht einmal mehr eine Gurke ohne ausführliche Geburtsurkunde gekauft. Wo kommt sie her? Wer waren die Eltern? Wer hat sie nach Deutschland geschleppt und warum? Der Gurkenesser will alles über die Gurke wissen, bevor er sie verspeist. Eine neue heile Welt entsteht direkt vor der Haustür. Die Übergewichtigen, die Säufer, dieses ganze unsportliche Pack raucht nervös an der Ecke. In dieser Welt haben die Jogger und die Blogger das Sagen.
In der Schule meiner Kinder fängt jeder Tag mit Sportunterricht an. Bei den Schulwürstchen, den Aufläufen, den Klopsen, dem ganzen Angebot der Schulkantine wird mit großen Fußnoten im Menü darauf hingewiesen, wenn die Gerichte irgendwelche Farbstoffe oder andere gesundheitsschädigende Komponenten enthalten. So weit ist es
schon gekommen, dass Kinder-Vegetarier eine Sonderschlange beim Mittagessen bilden. Und neulich erzählte mir meine Tochter, wie einmal direkt vor ihrer Schule ein großes Auto mit roter Plakette gestanden und fürchterlich gestunken habe. Alle Kinder auf dem Hof hätten sofort Hustenanfälle bekommen, als sie die Plakette gesehen hätten, und wären mit tränenden Augen davongerannt.
Wenn ich mir die Geschichten meiner Kinder anhöre, wundere ich mich jedes Mal aufs Neue und frage mich, wie es nur möglich war, dass wir – und mit »wir« meine ich alle Landsleute, die heute älter als dreißig sind – überhaupt überlebt haben. Wir wohnten in Häusern mit Wasserleitungen aus Blei und Wänden aus Asbest. Die Möbel in unseren Zimmern waren oft mit giftigen Lacken und Farben imprägniert, und einmal an einem Kleiderschrank zu lecken, bedeutete den sicheren und
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