Liebeskind
lag das stumme Entsetzen verwaister Eltern. Die Vorstellung, ein Kind zu verlieren, gehörte für Anna zu den traurigsten Dingen überhaupt, die einem im Leben widerfahren konnten. Ein Kind blieb immer ein Kind, ganz egal, wie alt es zu dem Zeitpunkt war, an dem es starb. Wenn man es verloren hatte, gab es keine Perspektiven mehr, denn mit ihm war auch die eigene Zukunft verloren.
Paul Herold räusperte sich.
„Wo haben Sie ihn gefunden?“
„Neben dem Gelände des ZOB in Hamburg. Ihr Sohn ist erstochen worden.“
Ein Schluchzen kam aus der Sofaecke, worauf Paul Herold seine Frau sofort in den Arm nahm und ihr mit langen, gleichmäßigen Bewegungen über den Rücken strich. Immer wieder und geduldig; so, als besäße er eine Zauberformel gegen den Schmerz.
„Wir können gern später wiederkommen.“
Hilde Herold sah Weber aus traurigen Augen an.
„Ist dem Mädchen auch etwas zugestoßen?“
Jetzt schaltete sich Anna ein. „Von welchem Mädchen sprechen Sie, Frau Herold?“
„Wir wissen nicht, wer sie ist. Eine Zufallsbekanntschaft, Rainer hatte sie erst am Abend zuvor im Gasthaus kennen gelernt. Er wusste nichts von ihr, außer ihrem Vornamen. Angela.“
„Und er ist gestern Abend mit dieser Angela verabredet gewesen?“
„Ja, er war deswegen schon den ganzen Tag über zerstreut gewesen. So etwas kennen wir sonst nicht von ihm, mein Sohn ist normalerweise nicht der Typ, der sich Hals über Kopf verliebt. Rainer glaubte, dass die Frau aus unserem Landkreis stammen könnte, weil sie sich so vertraut mit dem Wirt unterhielt.“
„Hat er sie beschrieben?“
„Sehr genau sogar.“
Anna schrieb mit und spürte plötzlich, wie der Platz auf dem Sofa neben ihr vibrierte. Hilde Herold zitterte und fing immer heftiger zu weinen an, bis ihr Körper schließlich in einer einzigen Verkrampfung erstarrte. Anna strich der Frau eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann wählte sie die Telefonnummer des Notarztes.
Paul Herold hatte sein Rückenstreicheln wieder aufgenommen. Mit einem Blick zu Weber sagte er: „Wir würden gern morgen unseren Sohn sehen.“
Falls die Jungs von der Rechtmedizin bis dahin mit ihm fertig sind, dachte Anna.
„Gut, sagen wir um elf Uhr in unserem Büro.“ Weber reichte Paul Herold seine Karte. „Hier haben Sie die Adresse.“
Auf ihrem Weg zur Autobahn kamen sie am selben Gasthof vorbei, in dem Rainer Herold Bekanntschaft mit Angelagemacht hatte. Draußen hing ein großes Schild im Wind –„Täglich wechselnder Mittagstisch“. Weber fuhr eine scharfe Kurve, bog in den Parkplatz ein, und wenig später saßen sie bereits an einem Tisch in der Ecke der Gaststube. Der „Maschener Hof“ war ein gutbürgerliches Lokal mit norddeutscher Hausmannskost, wie es in dieser Gegend viele gab. Die Einrichtung aus eichefurnierten Möbeln wirkte düster, und der Wirt hatte wohl gemeint, diesen Makel durch eine gleißende Beleuchtung wieder ausgleichen zu können. Anna war durchaus eine Freundin traditioneller Wirtshäuser, aber hierhin würde sie auch in Zukunft nichts ziehen. Dabei hätte es eigentlich nur weniger Kleinigkeiten bedurft, wie zum Beispiel Kerzen auf den Tischen und hier und da einiger Pflanzen oder Bilder. Und vor allem eines weicheren Lichts.
Hinter dem Tresen stand ein hoch aufgeschossener Mann mittleren Alters, der sich unter der Theke zu schaffen machte. Wie es aussah, war er gerade damit beschäftigt, ein neues Bierfass anzuschließen.
„Ich habe Hunger wie ein Wolf.“
Anna wunderte sich immer wieder, welche Mengen Weber an einem Tag verdrücken konnte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Nun trat eine rundgesichtige Kellnerin an ihren Tisch heran und fragte nach ihren Wünschen. Weber bestellte Grünkohl mit Kassler und Kohlwurst, Anna ein Schnitzel mit Salat.
„Wollen wir nicht zuerst unsere Arbeit erledigen?“, fragte Anna, als die Kellnerin wieder verschwunden war.
„Warum? Es kann doch nicht schaden, die Leute ein wenig zu beobachten, bevor wir zur Sache kommen.“
Die Kommissarin sah sich um, sie waren die einzigen Gäste in der Gaststube, und Anna konnte nur hoffen, dassdies an der fortgeschrittenen Uhrzeit und nicht an der Qualität der zubereiteten Speisen lag. Die Kellnerin unterhielt sich mittlerweile aufgeregt mit dem Wirt hinter dem Tresen, doch die beiden sprachen sehr leise. Unmöglich, auch nur ein Wort mitzubekommen.
Dann kam auch schon das Essen, das viel besser schmeckte, als es aussah. Als die Kellnerin abräumte, zog Anna Greve ihren
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