Liebeskind
damals. Wieder und immer wieder hörte sie das gehässige Gelächter der Clique. Sah, wie Rainer Herold währenddessen im Windschatten stand und sich einen feixte, wie immer, wenn es jemand anderem an den Kragen ging. Wie leicht war sie zu täuschen, wie einfach in diese Falle zu locken gewesen.
Nachdem sie geduscht hatte, saß Elsa mit nassem Haar auf ihrem Bett und merkte nicht, wie sich um sie herum eine Pfütze auf dem Teppichboden bildete. Mit den Augen fuhr sie das grafische Muster der Tapete nach, langsam atmete sie wieder ruhiger. Rainer, der Dreckskerl, endlich hatte er bekommen, was er verdient hatte. Noch mit dem letzten Atemzug hatte er versucht, ihren Namen auszusprechen, aber es hatte ihm nichts genutzt. Eines Tages, wenn alles erledigt war, würde dieser Traum aufhören, Elsa zu quälen. Eines Tages würde ihr auch inwendig warm sein. Es gab also doch einen Weg, sich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien.
„Morgen.“
Wie ein angeschossenes Raubtier lief Günther Sibelius im Büro der Kommissare Weber und Greve auf und ab. Was war nur der Grund für seine üble Laune an diesem frühen Morgen? Hier ging es um mehr als nur einen verstopften Kaffeefilter oder andere Kleinigkeiten, dachte Anna beunruhigt, während sie ihren Chef nicht aus den Augen ließ. Gewöhnlich war Sibelius ein freundlicher, ausgeglichener Mann. Anna hatte ihn bisher nur ein einziges Mal in einem vergleichbaren Zustand gesehen, und das war, als er von einem Termin bei seinem Kieferchirurgen zurückgekommen war, dem der Bohrer in seinem Mund abgerutscht war.
„Haben Sie schon gehört? Hermann Meyer ist zurückgetreten.“
Weber und Anna Greve nickten.
„Da kommt jede Menge Ärger auf uns zu, Kollegen. Ich glaube, der Druck und Ärger der letzten Jahre hat ihn zermürbt. Denken Sie allein an diese üble Geschichtemit der Poll-Partei. Rausgekommen ist dabei ja nichts anderes, als dass der Ärger vieler Bürger an der Polizei hängen geblieben ist. Jetzt sind unserer Behörde schon wieder die nächsten Sparmaßnahmen angedroht worden. Und das, obwohl von den angekündigten zweitausend neuen Mitarbeitern für Hamburg sowieso nur noch gut ein Zehntel zur Debatte steht, was nicht gerade übermäßig viel ist.“
„Sie haben Recht, Chef. Das ist zu wenig, um vernünftig arbeiten zu können“, bestätigte Anna.
„Vergessen wir aber nicht die zweihundert Hilfskräfte für den Innendienst“, fügte Weber versöhnlich hinzu.
Günther Sibelius schnaufte.
„Das haben Sie zwar schön gesagt, was wir allerdings mit denen anfangen sollen, ist mir ein Rätsel. Ich befürchte vielmehr, dass der Unmut der Leute einmal mehr an uns hängen bleiben wird.“
Anna kam mit einem Kaffee zu Sibelius herüber.
„Wie dem auch sei“, er nahm ihr den Becher dankend aus der Hand, „auch meine Belastbarkeit hat ihre Grenzen. Wenn man die Kompetenzen unserer Abteilung noch weiter beschneidet und auf Teufel komm raus Geld einsparen will, werden wir uns wehren müssen.“
„Und wie soll das gehen?“ Weber kaute nachdenklich auf einer Bleistiftspitze herum.
„Ist der Ermordete vom ZOB eigentlich inzwischen identifiziert worden?“, überging Günther Sibelius Webers Frage.
„Ja, die Eltern des Mannes sind bereits informiert. Sie kommen übrigens noch heute Vormittag ins Büro“, fügte Weber hinzu.
„Ich möchte auf jeden Fall dabei sein.“
Günther Sibelius durchquerte das Zimmer in Richtung Ausgang, und Anna beobachtete, wie sein forscher Schritt dabei die Staubflusen auf dem Fußboden aufwirbelte. Was hatte er gemeint, als er sagte, dass sie sich würden wehren müssen? Welche Möglichkeiten besaßen sie als Beamte überhaupt dazu? Dienst nach Vorschrift kam ihr in den Sinn und als letztes Mittel Streik. Anna wusste von Weber, dass man in den Reihen der Polizei nicht zum ersten Mal über Widerstand nachdachte. Wäre Hartmut Poll damals tatsächlich eine volle Amtszeit lang Hamburgs Innensenator geblieben, wäre es vielleicht schon viel früher zum Streik gekommen. Doch Poll hatte nicht lange genug durchgehalten. Er hatte es, nach seiner Pleite in der Politik, vorgezogen, sich irgendwo nach Südamerika abzusetzen.
Als Sibelius gegangen war, untersuchte Anna noch einmal den Notizzettel, den die Spurensicherung in Rainer Herolds Hosentasche gefunden hatte. „ANGELA“, jeder einzelne Buchstabe des Namens war von einem Herzen eingerahmt. Ganz unten auf der Seite hatte der Schreiber, höchstwahrscheinlich Rainer Herold
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