Liebeskind
Paulas Haustür zu stehen. Ihr Zimmer erinnerte Elsa ein wenig an die Butze, die sie kurz nach ihrer Flucht aus Maschen bei ihrer Tante Gertrud in Hamburg bezogen hatte. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Schrank, viel mehr war dort auch nicht gewesen. Elsa hatte die dicke Schwester ihrer Mutter Vera nie leiden können, und das hatte offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruht. Im Nachhinein fragte sich Elsa manchmal, warum Gertrud überhaupt darin eingewilligt hatte, sie bei sich wohnen zu lassen, damit Elsa in Hamburg ihre Schule abschließen konnte. Gertrud und Vera hatten einander nie etwas geschenkt, vielleicht war Gertruds mildtätige Geste in Wahrheit nur eine Art Rache an ihrer Schwester gewesen.
Elsa ging in die Schule und lernte. Sie tat es mit der gleichen Besessenheit, mit der sie sich vorher geweigert hatte. An den Nachmittagen und Abenden, an den Wochenenden und in den Ferien saß Elsa nun an ihrem Schreibtisch. Sie hatte viel nachzuholen, denn die letzten beiden Schuljahre waren an ihr vorbeigerauscht, ohne dass besonders viel bei ihr hängen geblieben war. Jetzt galt es fürElsa, ihren Kopf anzustrengen, und hier im Haus ihrer fetten Tante Gertrud lenkte sie nichts, aber auch gar nichts von der Arbeit ab. Gemütlichkeit wärmt, dachte Elsa, und wer es warm hat, wird träge. Bis spät am Abend saß sie vor ihren Büchern und vergaß sogar oft das Essen darüber. Was machte es, sie war eh Masse genug. Und dann die langen Winterabende, Elsas Einsamkeit. Ihr Blick aus dem Fenster auf eine menschenleere Straße. Da war niemand, kein Mensch, der nach ihr rief und sie zu irgendetwas einladen wollte. Nicht einmal Tante Gertrud hatte das Bedürfnis nach Elsas Gesellschaft. Sie durfte hier wohnen, bekam sogar ein kleines Taschengeld, wenn sie zum Ausgleich dafür Gertruds Haus und Garten in Ordnung hielt, von einem Zusammenleben aber war nie die Rede gewesen. Elsa störte das nicht, die Erfahrungen aus ihrer Kindheit halfen ihr gegen alle sentimentalen Gefühle. Nur Robin fehlte Elsa manchmal, der kleine zarte Robin. Sie vermisste seinen warmen Blick, der ihr sagte, dass er an sie glaubte, sein Blick, der ihr sagte, dass sie unverwechselbar war. In solchen Momenten nahm Elsa die Schatulle hervor und betrachtete deren Inhalt. Die glitzernden Scherben aus Glas, die Papierfetzen, die Rasierklinge. Manchmal benutzte sie noch etwas von ihren Schätzen, doch sie erwartete schon lang keine Rettung mehr von ihnen.
Elsa dachte an Paula. Eigentlich war es höchste Zeit, aus dieser Gegend zu verschwinden, aber Paula bewirkte, dass sie bleiben wollte. Die Szene, die Elsa vorhin beobachtet hatte, machte, dass sie bleiben wollte. Eine Frau, die etwas tat, nur für sich. Die sich über eine neue Farbe freute. Die etwas mit ihren Händen tat und die konzentriert in ihrer Welt lebte. Paula schien zufrieden zu sein. Nur noch einpaar Tage. Elsa würde Paula weiterhin studieren, um ihre Gewohnheiten besser kennen zu lernen. Auf jeden Fall würde sie Paula irgendwann gegenüberstehen, und sei es auch nur für einen Augenblick. Paula hätte dann die Chance, Elsa zu versöhnen.
Auch Lukas Weber sah nicht gerade glücklich aus, als Anna ihm an diesem Sonntagnachmittag auf dem Flur des Präsidiums über den Weg lief.
„Rita hat ein Riesentheater gemacht, weil ich mich aus ihrem Adventskaffeetrinken mit ihrer bescheuerten Mischpoke ausklinken musste.“
„Ja, manchmal hat unser Job eben auch sein Gutes“, lächelte Anna verschmitzt.
Nachdem Anna ihren Kollegen auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte, fügte sie hinzu: „Am liebsten würde ich jetzt sofort eine Großfahndung nach dieser Angela oder Sabine, oder wie sie auch immer heißen mag, einleiten.“
„Ich schlage trotzdem vor, dass wir damit noch bis morgen warten, Anna. Denn sollte es uns gelingen, diesen pensionierten Lehrer auf Menorca zu erreichen, erhalten wir vielleicht noch mehr Informationen über unsere Schöne. Und wir brauchen so viele Hinweise wie nur möglich, um erfolgreich zuschlagen zu können. Auf jeden Fall sollten wir uns vorher noch einmal mit Sigrid und dem Chef absprechen.“
Auf dem Rückweg vom Altersheim machte Robin Hollstein noch kurz an einer Tankstelle Halt, nachdem ihm eingefallen war, dass er überhaupt kein Bier mehr zu Haus hatte. Und genau das brauchte er jetzt. Vera war heute kaum ansprechbar gewesen, immerzu hatte sie ihn mit seinemVater Friedrich verwechselt. Robin hatte die Hasstiraden seiner Mutter über sich ergehen lassen,
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