Liebeskind
Mutter, die zu viel trank, und einem Vater, der auf allen Meeren herumschipperte und seine Familie schon längst vergessen hatte. Einem Vater, der eben keine Fabrik besaß, so wie der Vater von Torsten. Und doch musste es einen Grund geben, weshalb Torsten sie eingeladen hatte. Elsa wollte beim besten Willen keiner einfallen, außer ... Ja, außer, er hatte sich wirklich in sie verliebt.
Da drangen von draußen plötzlich Geräusche an Elsas Ohr. Stimmen waren es, die vor der Tür nach ihr riefen.
„Elsa komm raus!“
Als Elsa nach dem Gespräch mit Robin ihr Handy wieder in die Tasche zurücksteckte, zitterte sie noch immer vor Wut.Mit einem Zug sollte sie fahren, wenn es nach ihrem Bruder ging, um am Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen zu essen. Wie wenig Robin sie doch kannte.
Jetzt war Elsa froh darüber, dass sie am gestrigen Abend, trotz des Eisregens, noch mit ihrem eigenen Wagen hatte wegfahren können. Es wäre eindeutig zu gefährlich gewesen, ein Taxi zu nehmen, und Elsa erinnerte sich noch gut daran, wie schrecklich es war, mit dem Zug oder dem Omnibus unterwegs sein zu müssen. So wie auf jener ersten Zugfahrt von Hamburg nach Frankfurt, als sie ihr Studium der Lebensmittelchemie begonnen hatte.
Das Zugabteil war überfüllt gewesen, und Elsa hatte jeden Geruch, den die Menschen um sie herum ausgedünstet hatten, wahrgenommen. Sie roch deren Parfum und darüber hinaus auch das, was sie gegessen hatten. Bei einigen ihrer Mitreisenden konnte sie riechen, wo diese arbeiteten und sogar wie sie lebten. Elsa roch Fisch und Knoblauch, Fett, Mehl und Staub, ausgedrückte Zigarettenkippen, ungewaschene oder frisch geduschte Körper und Haare, Alkohol, Sex. Elsa roch Verwahrlosung, Seife und das Leben. Sie hörte all den sie zufällig umgebenden Menschen beim Reden zu und beobachtete, wie sie aßen oder tranken.
Und all diese Gerüche, das Reden, Schlucken und Saugen war unerträglich und wie ein körperlicher Angriff auf sie.
Elsa begann zu hyperventilieren, während das Land hinter den Zugfenstern an ihr vorbeiflog. Sie flüchtete auf die Toilette und schloss sich dort für den Rest der Zugfahrt ein. Elsa fürchtete, dass irgendwann jemand kommen würde, vielleicht mit dem Zugschaffner oder dem Generalschlüssel bewaffnet, um sie von ihrem Zufluchtsort zu vertreiben. Vor allem aber hatte sie auch Angst umihr Gepäck. Doch was sollte sie tun, Elsa konnte sich nicht rühren.
Ob Paula so ein Gefühl wohl auch kannte, kam Elsa wieder in die Gegenwart zurück. Oder war Paula nur die begabte Keramikerin im viel zu großen Arbeitsoverall; die Schöne, die wusste, wie man die Sonnenfarbe mischte? Hatte Paula schon einmal Angst gehabt? Und wenn ja, wovor? Um ihr Gepäck jedenfalls ganz sicher nicht.
War Paula wie sie?
Auf jeden Fall war Paula besonders. Aber war sie auch einsam? Elsa erinnerte sich, wie sehr sie Doreen bewundert hatte früher. Doreen war für sie eine Prinzessin gewesen, wunderschön. Elsas Bauch hatte gekribbelt, wenn Doreen sie ansah. Wenn sie sie ansah, oder nur wenn sie einander berührt hatten? Wie war das eigentlich genau gewesen? Auf jeden Fall aber war Doreen die Welt für sie gewesen, ein unentdeckter Kontinent, nur für Elsa. Auf dem flauschigen Wollteppich hatten sich manchmal ihre Füße getroffen, das war wunderbar gewesen. Anders dagegen, wenn Doreen sich ausgemalt hatte, wie es war, eines Tages endlich einen Jungen kennen zu lernen. Wie er sein musste, damit er ihr gefiel. Doreen hatte einen langen Atem, wenn sie sich ihr künftiges Leben vorstellte. Ihr Leben als erwachsene Frau. „Das Allerwichtigste ist dabei die Liebe“, hatte Doreen behauptet. Und dann all die lächerlichen Starschnitte von Kerlen an Doreens Zimmerwänden, die vielen Schallplatten voll von süßlichen Mädchenträumen. Es hatte zahllose Augenblicke gegeben, da hatte Elsa den Träumen ihrer Freundin nicht mehr folgen können. Trotzdem war sie zufrieden, mit Doreen neben sich auf dem Teppich zu liegen. Ihr seidiges Haar, das beim Kartenziehen ab und an Elsas Gesicht streifte,hatte sie jedes Mal eine Gänsehaut bekommen lassen. Und jetzt Paula. Elsa wusste, dass sie viel riskierte, nur um weiterhin in Paulas Nähe sein zu können. Wie war das damals eigentlich mit Torsten gewesen? Hatte Elsa ihn wirklich so sehr geliebt, dass sie ihn nun hatte töten müssen, ihn und seinen Herold? Oder war es nicht vielmehr Stolz gewesen? Der Stolz darauf, dass ein Gewinner mit ihr zusammen sein wollte. Aber was hatte
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