Liebeskind
für die Fahrkarte teilen. Wer weiß, vielleicht schneit es sogar, dann bringen wir einen Schlitten mit, wenn wir Mutter besuchen. Möglicherweise ist sie sogar zu einem kleinen Ausflug zu bewegen. Und dazwischen gucken wir uns alles in der Glotze an, was nur ein bisschen nach Märchen aussieht. Außerdem könntest du mich zu Doreens Beerdigung begleiten.“
„Stopp! Robin, merkst du überhaupt nicht, was für eine Scheiße du da redest? Ich fasse es nicht, wie du mir ein solches Gruselkabinettprogramm überhaupt vorschlagen kannst. Und auch noch ausgerechnet zu Weihnachten.“
„Aber du wolltest doch unbedingt Kontakt zu Doreen aufnehmen, Elsa. Keiner von uns konnte schließlich wissen, dass sie so bald sterben würde. Die Polizei spricht mittlerweile von einem Fahrradunfall, ist sich aber noch nicht ganz sicher. Also, was ist, kommst du?“
„Nein, du Idiot, zum Teufel mit dir! Geh mir nicht weiter mit deinem Kinderkram auf den Zeiger! Und vor allem, lass mich endlich mit Vera in Ruhe. Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Vergiss den Schlitten, Vera wird sowieso sterben. Außerdem interessiert es mich wirklich nicht, Doreens wunderbar zerzausten Tischler und das verzogene Gör an ihrem Grab flennen zu sehen. Iss deine Gans mit wem du willst, ich habe andere Pläne. Mach’s gut, Brüderchen.“
Robin Hollstein saß noch immer reglos mit dem Telefon in der Hand am Tisch, obwohl seine Schwester das Gespräch bereits vor ein paar Minuten abgebrochen hatte.
„Sie war es, Frau Greve“, murmelte er schließlich und drehte sich zu Anna um. „Wie sonst sollte sie von Arno Rostoder auch von Martha wissen. Ich möchte jetzt gern allein sein. Falls Elsa sich noch einmal meldet, informiere ich Sie sofort.“
„Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, Herr Hollstein“, versuchte Anna ihn zu trösten.
Wenig später, als sie zusammen mit Weber ins Präsidium zurückfuhr, fügte Anna hinzu, was sie sich eben nicht zu sagen getraut hatte.
„Robin hat seine Schwester vorhin echt aus der Reserve gelockt. Ziemlich clever, wie er Doreen Rost ins Spiel gebracht hat.“
„Ja, und damit ist der Fall eindeutig, Anna. Jetzt müssen wir Elsa Hollstein nur noch finden, und dann würde ich gern wissen, was eigentlich der Grund für diesen ganzen Wahnsinn ist.“
Elsa in Maschen, im Sommer 1987.
Als Elsa an diesem Montagnachmittag um die Ecke der Näherei bog, wartete Torsten bereits auf sie. Verlegen stand er da und traktierte, ein Büschel Grashalme in seiner Hand, den Zaun vor der väterlichen Fabrik. Jetzt grinste er Elsa schief an, umarmte sie und führte sie anschließend zu seinem Holzschuppen hinter der Halle. Torsten hatte einen Platz in der Ecke mit Stroh ausgeschlagen und eine weiche Decke darübergelegt. Aus einer Bananenkiste war ein Tisch geworden. Darauf stand der Kassettenrekorder aus seinem Zimmer, der leise Musik spielte, natürlich von „The Cure“. Daneben brannte eine rote Kerze. Elsa war hingerissen. Torsten schien alles nur für sie vorbereitet zu haben. Als er ihr wenig später zärtliche Worte ins Ohr flüsterte und sie durch seine fordernden Hände und Bewegungen immer weiter in Aufregung versetzte, hätte Elsa platzen können vor Glück.
Elsa schloss ihre Augen. Sie wagte kaum zu atmen, und ihr Körper war bis in die letzte Faser gespannt. Eine Fliege lief über ihre Wange. Sie schlug danach. Als die Stelle anschließend brannte, wusste Elsa, dass sie diesmal nicht träumte. Voller Verwunderung versuchte sie, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Torsten sie tatsächlich lieben könnte. Niemals hätte sie gedacht, ernsthaft eine Chance bei ihm zu haben, schließlich war es ihr bisher noch nicht einmal gelungen, in seine Clique aufgenommen zu werden. Und selbst wenn das Feuermal in Elsas Gesicht plötzlich unsichtbar geworden wäre, so blieb sie trotz allem doch immer noch die fette, schwitzende Elsa. Torsten schien sich jedoch nicht daran zu stören, genauso wie es ihm egal zu sein schien, dass Elsa aus keinem reichen Elternhaus kam, so wie manch eine der schwarzen Lackschuhe. Und es interessierte ihn offensichtlich auch nicht weiter, dass sie, außer ihrer Stimme vielleicht, ansonsten keine weiteren Fähigkeiten hatte, mit denen sie jemanden beeindrucken konnte. Natürlich ließ sie sich nicht alles gefallen, doch Elsa war weder besonders schlagfertig noch so ein unverschämter Clown wie Rainer. Sie war eben Elsa, einfach nur Elsa. Dick, hässlich und meistens traurig. Mit einer einsamen
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