Liebeskind
nach Hause zu fahren. Stattdessen bog sie ein paar Ausfahrten früher von der Autobahn ab, um für Paula ein Weihnachtsgeschenk zu besorgen. Ziellos lief sie durch mehrere Modegeschäfte, ohne etwas zu finden, was sie Paula schenken wollte. Geistesabwesend strich sie über die weiche Wolle einiger Mohairpullover, doch in Gedanken war sie bei ihrem Mann Tom. Wenn er sich nur etwas mehr Mühe geben würde, könnte er noch immer ihr Held sein, dachte Anna. Und wenn der Alltag mit seinen vielfältigen Problemen nicht gewesen wäre, hätte aus ihnen beiden sogar noch ein Traumpaar werden können. Für Anna bedeutete „ein Traumpaar“zu sein, miteinander alt werden zu wollen, einander zu begleiten und sich nichts anderes zu wünschen als genau das. Wie immer man es auch drehte, war es doch gerade das tagtägliche Miteinander, das eine Partnerschaft ausmachte. Sie beide konnten schließlich nicht fortwährend immer nur außergewöhnliche Momente miteinander erleben, wie zum Beispiel gemeinsame Runden auf einem menschenleeren, romantischen Winterteich ziehen. Und daher bedeutete die Tatsache, dass sie ihren Alltag nicht in den Griff bekamen, für Anna, dass sie in Wahrheit leider nicht zueinanderpassten.
Während Anna wenig später an der Kasse wartete, um den hellblauen Schal zu bezahlen, den sie für Paula ausgesucht hatte und den sie noch als Geschenk verpacken lassen wollte, kam ihr plötzlich Jan in den Sinn. In den letzten Monaten hatte sie sich jeglichen Gedanken an ihren Schwager verboten. Zu stark wurde die Sehnsucht nach seiner Nähe, wenn Anna die Erinnerung an den Nachmittag, an dem sie in seiner Wohnung miteinander geschlafen hatten, zuließ. Jan und sie hatten sich wunderbar verstanden, zumindest körperlich. Jetzt waren es nur noch zwei Tage, dann würde er mit seiner Tusnelda im Arm bei ihnen vor der Tür stehen. Wie sollte es Anna nur fertigbringen, sich bis dahin wieder mit Tom zu versöhnen? Würde Jan nicht sofort mitbekommen, dass sie ihm Harmonie vorspielten, es in Wirklichkeit aber ganz anders aussah? Und warum, zum Teufel, mussten sie ihm überhaupt etwas vorspielen? Wenn es nach Anna ging, sollte Jan ruhig bemerken, dass ihre Ehe mit Tom zu scheitern drohte.
Als Anna vor Paulas Haus parkte, fing es leicht zu nieseln an. Der Himmel war wolkenverhangen, hoffentlich, so wünschte sie sich, würde es bald zu schneien beginnen.Denn falls bei dieser Wetterlage auch noch Regen auf die gefrorenen Straßen fiele, würde Anna es schwer haben, an diesem Abend überhaupt noch nach Hause zu kommen. Aber vielleicht war es sowieso besser, die Nacht bei Paula zu verbringen. So würde sie sich zumindest für heute eine kleine Auszeit von ihrer privaten Misere verschaffen.
Unterdessen hatte sich Elsa wiederum an Paulas Fersen geheftet und beobachtet, wie die Keramikerin zu Hause erneut in ihrer Werkstatt verschwunden war. Also hatte ihr Paula vorhin im Kaufhaus die Wahrheit gesagt und nicht nur vorgegeben, etwas zu tun zu haben, weil sie mit Elsa nicht an einem Tisch sitzen wollte. Wahrscheinlich hatte sie noch einiges an Arbeit fertigzustellen, dachte Elsa. Aufträge, die sie nicht verschieben konnte, weil sie als Geschenke unter dem Tannenbaum liegen sollten. Ob Paula sie sympathisch gefunden hatte? Und wäre sie auch einer anderen Frau dabei behilflich gewesen, die richtige Hose zu finden? Möglicherweise ja, denn Paula schien ein freundlicher und offener Mensch zu sein. Aber hätte sie eine andere auch so angelacht, wie sie es vorhin bei Elsa getan hatte? Und hätte Paula von irgendeiner anderen Frau ebenfalls ein Foto zur Erinnerung gemacht? Einen Kerl schien Paula jedenfalls wirklich nicht zu haben, es sei denn, er war gerade für längere Zeit verreist oder krank. Nein, Paula war auch nicht der Typ Frau für überflüssiges Geplänkel mit irgendeinem Kerl. Paula war anders. Allerdings schien sie bereits eine Freundin zu haben. Diese kleine Dunkelhaarige, die Paula vor ein paar Tagen schon einmal besucht hatte, kam gerade über den Hinterhof gelaufen und öffnete die Tür zur Werkstatt. Sie schien sich hier gut auszukennen. Elsa sah, wie Paula dieDunkelhaarige umarmte, anschließend gingen die beiden Arm in Arm ins Haus hinüber. Die Dunkle hatte etwas mitgebracht, ein Paket, das Paula nun in ihrem Wohnzimmer auspackte. Elsa konnte nicht genau erkennen, was es war. Es sah wie eine Wolldecke aus, ein langer Schal oder eine Stola vielleicht. Und es war himmelblau, genauso wie Paulas Augen. Musik klang aus dem
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