Liebeskind
selbst, zudem noch einen roten Pfeil gezeichnet und auf der Rückseite die Daten seines Rendezvous geschrieben. „22.00 Uhr, ZOB.“ Der Platz, an dem man ihn ein paar Stunden später ermordet aufgefunden hatte. War diese Angela unter Umständen sogar der Schlüssel zu dieser Tat? War sie möglicherweise selbst die Täterin? Oder hatte vielleicht der Mann, mit dem sie zusammenlebte, etwas mit dem Mord an Rainer Herold zu tun? Falls es überhaupt einen festen Partner in Angelas Leben gab, hätte dieser unter Umständen auch ein Motiv für den Mord an Rainer Herold gehabt. Ein eifersüchtiger Liebhaber, der sich von Angela betrogen fühlte, hätte durchausauf die Idee kommen können, Vergeltung an seinem vermeintlichen Nebenbuhler zu üben. Die Schnittverletzungen in Herolds Gesicht deuteten jedenfalls auf einen Täter hin, der mit ungezügelter Wut zu Werke gegangen war. Falls an ihrer Theorie etwas dran sein sollte, überlegte Anna, könnte auch Angela selbst diesem Mann zum Opfer gefallen sein oder noch fallen. Das wäre möglicherweise auch eine Erklärung dafür, warum sich die Frau bisher noch nicht bei der Polizei gemeldet hatte.
„Weber, haben Sie das gesehen? Rainer Herold ist offensichtlich mit seiner Gasthausbekanntschaft Angela am Busbahnhof in Hamburg verabredet gewesen. Hat sich Dr. Severin eigentlich schon über den genauen Todeszeitpunkt geäußert?“
„In den späten Abendstunden; kurz vor Mitternacht, hat er gesagt.“
Zur Beantwortung der zweiten Frage kam er nicht mehr, denn ihr Gespräch wurde durch ein jähes Klopfen unterbrochen. „Ja bitte“, sagte Weber, worauf Paul und Hilde Herold Hand in Hand zur Tür hereinkamen. Anna rief Günther Sibelius an.
Paul Herold hielt sich nicht lange mit Vorreden auf.
„Wir möchten unseren Sohn sehen.“
„Lassen Sie uns zuerst ein wenig miteinander reden“, Günther Sibelius lächelte freundlich. „Setzen Sie sich doch. Gab es einen bestimmten Anlass für den Besuch Ihres Sohnes, ein Familienfest vielleicht?“
„Nein, Rainer wollte uns wohl eine Freude machen, wir hatten einander lange Zeit nicht gesehen. Außerdem erzählte er etwas von einem geschäftlichen Termin in Hamburg.“
„Was hat ihr Sohn denn beruflich gemacht?“
„Er ist an der Börse gewesen. Ein Fachmann für Geldangelegenheiten“, erwiderte Paul Herold, doch aus seinem Mund klang es so, als hätte er das Tätigkeitsprofil eines Löwenbändigers beschrieben. Einen Beruf, bei dem jeder sofort ein Bild im Kopf hatte, aber keine realistische Vorstellung, worin diese Arbeit tatsächlich bestand. Er sah sich hilfesuchend nach seiner Frau um, die aber völlig leblos auf ihrem Stuhl saß. Also fuhr er fort. „Nach seinem Studium hat Rainer für einige Zeit bei einer Bank in Frankfurt gearbeitet. Die letzten Jahre hat er dann in New York gelebt.“
„Können Sie uns sagen, was er dort getan hat?“
„Das habe ich ihn auch gefragt, aber er meinte immer, das sei ziemlich kompliziert zu beschreiben. So wie ich es verstanden habe, war er an der New Yorker Börse tätig. Internationale Geschäfte, mehr wissen wir nicht.“
„Wer ist sein Arbeitgeber gewesen?“
Paul Herold sah Weber ratlos an. „Die Hessen Bank, glaube ich. Jedenfalls war das so, als er noch in Frankfurt arbeitete. Doch jetzt hieß das anders, irgendwie englisch. Ich werde in Rainers Unterlagen nachsehen.“
Wieder versuchte er vergeblich, Blickkontakt zu seiner Frau herzustellen.
„Wenn wir die Beerdigung hinter uns haben, fliege ich in die Staaten, um Rainers Angelegenheiten zu regeln.“
„Kommen wir noch einmal zum letzten Abend zurück“, Annas Gedanken kreisten weiter um die unbekannte Frau. „Hat ihr Sohn irgendetwas über diese Angela gesagt. Etwas, das Sie bei unserem ersten Besuch vergessen haben?“
„Hilde und ich haben uns die ganze Nacht über den Kopf zerbrochen. Ob wir etwas übersehen haben. Irgendein Detail vielleicht ...“
„Da war nichts“, unterbrach Hilde Herold ihren Mann. „Es ist meine Schuld, ich hätte ihn niemals gehen lassen dürfen. Wenn ich geahnt hätte ...“ Der letzte Teil des Satzes ging in einem unverständlichen Flüstern unter. „Er war doch unser einziges Kind.“
Paul Herold war aufgestanden. „Wir möchten ihn jetzt sehen, bitte“, murmelte er.
Obwohl sie ihnen diesen letzten Blick auf ihren Sohn zugestehen mussten, er sogar unumgänglich war, wünschte sich Anna, Rainer Herold hätte nicht dieses entstellte Gesicht gehabt. Tot war er sowieso,
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