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Liebeskind

Liebeskind

Titel: Liebeskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Westendorf
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doch unmöglich in seinem Laden vorstellen und vorgeben, auf der Suche nach Arbeit zu sein. Auch die Idee, sich als Vertreterin für Garne oder Maschinen auszugeben, verwarf Elsa wieder. Beide Möglichkeiten bargen einen entscheidenden Nachteil, ein Risiko, das ihr gefährlich werden konnte. Es würde Zeugen für ihren Besuch in der Fabrik geben. Irgendjemand, der sie von früher kannte, würde sie möglicherweise wiedererkennen. An einer Kleinigkeit, ihrem Blick oder der Art ihres Ganges. Er käme vielleicht auf die Idee, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dem Mädchen Elsa geben könnte. Nein, alles musste ganz unbeabsichtigt erscheinen, zufällig sollte es für Torsten aussehen. Er würde sich keine Sorgen machen, bis zum letzten Augenblick. Dem Moment, in dem er sterben musste. Frauen machten nur Fehler, wenn sie versuchten, zu denken wie Männer. Selbstvergessen kaute Elsa weiter auf einer Stange Sellerie herum, die sie vorhin im Supermarkt erstanden hatte. Das mahlende Geräusch ihres Kiefers versetzte sie in einen Zustand der Ruhe, der beinahe einer Meditation gleichkam. Elsa betrachtete ihr Problem von allen Seiten, und dann kam ihr schließlich eine Idee. Jetzt musste sie nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten. Doch sie konnte sehr geduldig sein, wenn es erforderlich war.

    Elsa in Maschen, im Juli 1984.
    Elsa hatte ihre Streunereien ausgedehnt, mittlerweile wagte sie sich sogar weit über die Grenze der Siedlung hinaus. Es gab so viel zu entdecken, dass die Zeit dafür bei Weitem nicht ausreichte. Und so konnte sie sich gerade jetzt, da das Wetter so schön war, oft nicht entschließen, in die Schule zu gehen. Sie hatte sich angewöhnt, noch vor den anderen das Haus zu verlassen. So konnte sie niemand beobachten oder bei den Eltern verpetzen. Immer öfter bog sie nun nicht links in die Schulstraße ein, sondern fuhr einfach weiter geradeaus. Kam an, wo ihr die Straßen und Häuser, vor allem aber die Menschen fremd waren. Hier sagte niemand guten Tag und bedachte sie dabei mit einem mitleidigen Blick. Hier war sie einfach nur ein fremdes Mädchen, um das man sich nicht weiter kümmerte. Jenseits der Grenzen ihrer vertrauten Welt schienen die Glasscherben bunter zu sein. Durchsichtiger in ihren Farben und von einem geheimen Glanz, fast wie Edelsteine. Und sie waren auch viel größer, so kam es ihr jedenfalls vor. Wenn sie dann aber, zu Hause angekommen, ihre neuen Schätze mit den alten in der Holzkiste verglich, waren sie auf einmal nichts Besonderes mehr. Sie hatten das Feuer, den edlen Glanz verloren, waren nur noch kleine Stückchen von zerbrochenem Glas, weiter nichts. Genauso wenig wert wie sie selbst.
    Jan war schmaler geworden, erwachsener. Anna fand, dass es ihm gut stand. Zögernd nahm sie Jan in den Arm und versuchte, sich den Anschein zu geben, als wäre diese Geste nichts Besonderes für sie. Sein Blick traf Anna nur für einen kurzen Augenblick, dann ging er mit seinen Paketen ins Wohnzimmer, wo ihm die Jungen um den Hals fielen. Anna fühlte Toms Hand auf ihrer Schulter, sie war warm und fest. Trotzdem hatte sie auf einmal einen muffigenGeruch in der Nase. Es roch wie früher in der Kirche, beim Abendmahl. Wenn sich der Pastor über sie gebeugt, sein modriger Talar dabei ihr Gesicht berührt und er anschließend seine Finger auf ihre Stirn gelegt hatte, um sie zu segnen, genau dann hatte es so gerochen. Sie versuchte dem Drang zu widerstehen, sich die Nase zuzuhalten. Konzentrierte sich auf das Ausatmen und darauf, dass dieser Moment bald vorüber sein würde. Anna sah ihren Mann Tom zu den anderen hineingehen und konnte keinen Schritt mehr tun. Reglos stand sie da, und es kam ihr so vor, als wären Stunden vergangen seit diesem Blick von Jan, seit dieser Hand von Tom. Jetzt stürmten Ben und Paul ohne ihre Mutter zu bemerken an Anna vorbei die Treppe hoch, und auch die beiden Brüder im Wohnzimmer waren nur miteinander beschäftigt. Vielleicht sollte sie mit Henry einen Spaziergang machen, überlegte Anna. Leise drehte sie sich um und schloss die Tür. Am wichtigsten war jetzt, dass Tom und Jan wieder einen Weg zueinander fanden, dabei störte sie nur. Anna ging in den Flur und nahm sich ihre Daunenjacke von der Garderobe. Während sie sich anzog, konnte sie hören, was drinnen gesprochen wurde.
    „Ist schön, dich zu sehen.“ Jan lachte verlegen.
    „Ja.“
    „Wir müssen reden, Tom.“
    „Lass uns zuerst etwas trinken.“
    Sie nahm nicht den geraden Weg, sondern lief lieber

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