Liebeskind
Straßenrand und rieb sich die Augen. Mit aller Kraft versuchte sie, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Der schwarze Geländewagen war unterdessen wieder aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Wo war Torsten geblieben? In dieser wütenden Stimmung konnte er wohl kaum zum Frühschoppen gefahren sein. Was würde er stattdessen tun? Elsa erinnerte sich an Torstens Vater, dem an den Wochenenden meist nichts anderes eingefallen war, als zu arbeiten. Sie startete den Motor und fuhr los.
Ihr Gefühl hatte Elsa nicht getrogen, als sie an ihrem Ziel ankam. Torstens schwarzer Geländewagen parkte im Hof der Näherei. Wie zuvor stellte sie sich auf einen versteckten Parkplatz, von dem aus sie den Eingang schräg gegenübergut im Blick hatte. Erst jetzt fiel ihr das neue Firmenschild auf. Nicht mehr Hans Lorenz, sondern sein Sohn Torsten war mittlerweile Inhaber der Fabrik. Torsten schien auch nicht gerade ein erfülltes Leben zu haben, dachte Elsa. Nun machte es ihr nichts mehr aus, lange zu warten.
„Er hat einen Blick, so tief wie das Meer. Paula, was soll ich nur tun?“
Die Äpfel kochten leise vor sich hin, Henry lag auf seinem Platz vor der Küchentür, und Anna band sich gerade ihre verschmierte Schürze ab. Doch ihre Freundin antwortete nicht direkt, sondern meinte nur: „Jetzt haben wir uns erst mal ein Gläschen verdient, prost.“
Anna fühlte den kühlen Prosecco auf ihrer Zunge prickeln, schluckte ihn hinunter und seufzte.
„Bleib ruhig“, riet ihr Paula nun, „ich denke, du hast dich entschieden.“
„Das hat doch damit nichts zu tun. Warum guckt Jan mich noch immer so an?“
Paula tätschelte ihren Po. Dann begann sie, Anna zu kitzeln, bis diese vor Lachen kaum noch Luft bekam.
„Du bist eben ein hübsches Kind. Wäre ich nicht so hoffnungslos auf Männer fixiert, würde ich auf der Stelle etwas mit dir anfangen.“
„Ach, Paula, ich bin schon wieder mittendrin, mich zu verzetteln. Nie habe ich genug Zeit oder Kraft für all die Dinge, die von mir erwartet werden. Manchmal beneide ich meine ledigen und kinderlosen Kollegen. Die haben alle Zeit der Welt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“
„Meinst du etwa, die hätten nichts mit der Liebe am Hut? Sieh mich an. Und jetzt erzähl, habt ihr die rothaarige Frau denn schon gefunden?“
Als Torsten gegen Mittag wieder in seinen Wagen stieg, folgte Elsa ihm in gebührendem Abstand. Sie hatte vermutet, dass er nach Hause fahren würde, doch stattdessen parkte er nun wie gestern vor dem Gasthof und ging hinein. Elsa biss in ihr Sandwich und wartete. Während sie auf die Eingangstür starrte, kam ihr Johannes in den Sinn.
Johannes war einer ihrer ehemaligen Liebhaber, Elsa hatte ihn während des Studiums kennen gelernt. Von Anfang an hatte er die Augen nicht von ihr lassen können. Er war ein sympathischer, zuverlässiger Mann gewesen, der alles dafür getan hatte, dass Elsa sich in ihn verliebte. Elsa hatte sich von seinem Interesse an ihr geschmeichelt gefühlt, aber ihr Herz hatte Johannes nie gehört. Trotzdem hatte sie sich mit ihm zusammengetan und gehofft, dass Johannes vielleicht in der Lage war, ihr zu geben, wonach sie sich sehnte. Wonach hatte Elsa sich eigentlich gesehnt in dieser Zeit? Nach einer Familie, einem Zuhause, nach Geborgenheit, wahrscheinlich nach all dem Mist. Elsa lachte verächtlich, an Torsten konnte man doch sehen, wohin das führte. Ja, mit Johannes hätte es klappen können. Aber warum hatten sie seine Zärtlichkeiten dann trotzdem so unberührt gelassen in all den Monaten? Damals hatte Elsa sich mit dem Gedanken beruhigt, dass sie ihn eben nicht genug liebte. Zwei Jahre lang hatte ihr Spiel gedauert, Johannes konnte schließlich nicht wissen, dass sie in einem Kokon gefangen war. Sie hatte es ja selbst nicht gewusst. Elsa ließ Johannes immer nur gerade so nah an sich heran, dass er motiviert war, weiterzumachen. Elsa konnte seine Nähe nicht ertragen, doch ohne ihn zu leben schien ihr ebenso unvorstellbar zu sein. Und sie genoss es, Macht über Johannes zu besitzen. Irgendwann hatte er dann genug gehabt von ihr, das war derAugenblick, in dem Elsa angefangen hatte, ihn zu lieben. Nach Johannes hatte es andere Männer gegeben, doch es waren immer kurze Affären geblieben. Und an all dem war nur Torsten schuld. Elsa schlug mit der Hand gegen das Steuer, in ihr war eine große Wut.
Elsa in Maschen, im Sommer 1984.
Jenseits der Siedlung begann die Welt. Hier standen die schönen Häuser, hier waren auch die
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