Liebeskind
seinen Kopf und schloss die Augen. Dabei stellte er sich genüsslich vor, wie sich sein unerwarteter Gast eben noch kurz die Lippen rotnachziehen, vielleicht auch ein Kondom mit ihrem Lieblingsgeschmack aus ihrer Handtasche holen würde. Die sich nähernden Schritte jagten Torsten eine Gänsehaut über den Körper. Plötzlich war es still. Er spähte umher und entdeckte sie schließlich hinter sich, auf der anderen Seite vom Regal. Allerdings verspürte er jetzt nur wenig Lust, aufzustehen, um die Kleine wieder einzufangen. Langsam sollte es wirklich zur Sache gehen.
„Komm doch her.“
War es Einbildung oder hatte sich das Gesicht seines Gastes in der Zwischenzeit verändert? Irgendetwas stimmte nicht mit den Augen der Frau. War er bösartig, dieser Blick? Torsten Lorenz kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Elsa stemmte sich plötzlich mit aller Kraft gegen das Regal, das zu seinem Erstaunen zu kippen begann.
„Halt!“, schrie er noch, aber es war bereits zu spät.
Als Torsten wieder zu sich kam, spürte er einen stechenden Schmerz. Vergeblich versuchte er, sich aufzurichten. Sein rechter Arm tat ihm höllisch weh, er schien gebrochen zu sein, und seine Beine lagen merkwürdig verdreht und gefühllos unter all den Trümmern. Das Gewicht des Regals auf ihm machte es Torsten unmöglich, mehr als seinen Kopf und die Schultern anzuheben.
„Sind Sie verrückt geworden? Los, helfen Sie mir!“
Die Frau stand nun dicht neben ihm. Sie sah auf Torsten herab und kicherte leise.
„Du bist doch nicht ganz dicht, du blöde Schlampe.“
„Wie fühlt es sich an, in der Falle zu sitzen, Torsten?“
Voller Angst blickte er zu ihr hoch. Da war etwas in ihrer Stimme gewesen, das ihm bekannt vorkam. Und irgendwo hatte er auch diese Augen schon einmal gesehen.
„Elsa?“
„Die dicke Elsa mit dem Feuermal im Gesicht, die so verliebt in dich gewesen ist?“
„Was im Gesicht? Elsa, hilf mir hier heraus, bitte. Wir können über alles reden. Ich hab das damals wirklich nicht gewollt. Es ist Rainers Idee gewesen. Bitte, sei vernünftig …“
Doch Elsa reagierte nicht. Stattdessen kramte sie in ihrer Reisetasche herum und lachte verächtlich, als sie den Hammer nun fest in beide Hände nahm. Als es vorbei war, zückte sie das scharfe Messer, um zu tun, was sie sich die ganze Zeit über vorgenommen hatte. Mit einem präzisen Schnitt kastrierte sie ihn, seine Hose stand ja noch offen. Der Mond schaute wie vorhin zum Fenster herein, und Elsa beeilte sich, von hier fortzukommen. Schnell zog sie ihr Kleid aus, zum Glück war es eines, das man gut waschen konnte, und streifte sich die anderen, nassen Kleidungsstücke von vorhin wieder über. Sorgsam packte sie anschließend ihre Werkzeuge, das Kleid und die Jacke wieder in ihre Reisetasche zurück. Die beiden Gläser legte sie, damit sie nicht kaputt gingen, obenauf, dann schaute sie sich aufmerksam um. Alles war in Ordnung, sie hatte nichts übersehen. Zuletzt fiel ihr Blick auf die hölzernen Aufbewahrungskästchen für Nähgarne, die in einem großen Regal in der Halle herumstanden. Im Hinausgehen klemmte sich Elsa eines davon unter den Arm und verließ unerkannt die Fabrik.
Als Anna an diesem Morgen die Tür zu ihrem Büro öffnete, saß dort ein junger Mann an ihrem Schreibtisch. Im Hereinkommen konnte sie gerade noch sehen, wie er ihren Aktenstapel mit seinem Ellenbogen beiseiteschob.Ihren gemurmelten Gruß schien er nicht gehört zu haben. Stattdessen unterhielt er sich weiter lebhaft mit Weber und stieß versehentlich dabei die oberste Mappe vom Tisch, die klatschend zu Boden fiel. Mittlerweile stand Anna direkt hinter ihm. Eifrig bückte er sich, hob die Akte auf und wischte den Staub von ihrem Einband. Noch immer hatte er die Kommissarin nicht bemerkt. Weber zupfte an seinem Hemdkragen herum und rollte mit den Augen.
Dann sagte er: „Herr Bertram, meine Kollegin Anna Greve. Herr Bertram soll sich hier bei uns ein bisschen umsehen.“
Der junge Mann stand daraufhin auf und versuchte hastig, die alte Ordnung auf Annas Schreibtisch wiederherzustellen.
Er wischte seine staubige Hand gründlich an seiner Jeans ab, bevor er sie ihr hinhielt.
„Tut mir leid, Frau Greve, ich wusste nicht, wohin mit den Sachen.“
Anna lächelte, schließlich konnte er ja nichts dafür. Sie gab Weber ein Zeichen, mit ihr vor die Tür zu kommen.
„Was soll das werden, da drinnen?“
„Das ist einer von den neuen Hilfskräften für den Innendienst. Wir sind
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