Liebeskind
im Norden von Griechenland wahrscheinlicher alsin Hamburg. Anna stand auf, stellte Weber einen Becher Tee vor die Nase und sagte: „Ich bin mal kurz beim Chef.“
Günther Sibelius starrte, wie Anna Greve vor wenigen Minuten, aus dem Fenster und verfolgte den heftigen Hagelschauer, der soeben eingesetzt hatte und hinter der Glasscheibe tobte.
„Störe ich?“
„Ach, woher, setzen Sie sich.“
„Es geht um Sigrid Markisch. Ich habe nicht den Ein druck, als fühlte sie sich besonders wohl bei uns.“
„Wir sind ja auch kein Wellnesshotel, Anna. Sie werden sich schon noch zusammenraufen. Und wenn ich mich recht erinnere, sind Sie doch diejenige gewesen, die von Anfang an einen Zusammenhang zwischen beiden Taten gesehen hat. Wir brauchen Sigrid Markisch.“
„Aber sie hält Informationen zurück und benimmt sich wie eine Diva.“
Sibelius schenkte Anna ein schiefes Lächeln.
„Davon werden Sie sich doch nicht beeindrucken lassen, oder? Vielleicht ist die Markisch nicht gerade die Umgänglichste, aber von ihrer Arbeit versteht sie etwas. Geben Sie sich einen Ruck. Oder ist das ein Problem für Sie?“
Elsa in Maschen, im Mai 1985.
Seit ein paar Monaten konnte Elsa beim Abendbrot nie genug bekommen. Sie schlang in sich hinein, was ging, trotzdem blieb immer eine Leere in ihrem Bauch zurück. Während sie kaute, war es warm. Doch ihr wurde wieder kalt, sobald sie nichts mehr in den Mund steckte. Wenn Elsa die Kälte und Taubheit in sich spürte und es nicht mehr aushalten konnte, kramte sie die blaue Glasscherbe hervor.
„Das Kind ist im Wachstum“, umschrieb Vera die Veränderungen, um sich dann anschließend bei ihrem Mann Friedrich darüber zu beschweren. „Die frisst uns noch die Haare vom Kopf. Schau dir ihre Hose an, wie sie über dem Po spannt. Ich kann doch nicht alle paar Wochen neue Kleider kaufen, was denkt sie sich nur dabei.“
Vera hatte sich angewöhnt, über Elsa zu sprechen, als ob sie gar nicht anwesend wäre. Und sie schaute ihre Tochter auch nicht mehr an, Vera sah durch sie hindurch. So, als wäre Elsa unsichtbar oder dumm oder taub oder blind oder alles zusammen. Friedrich war auf ihrer Seite, zeigte es aber nicht. Wenn ihr Vater doch nur endlich von hier fortginge und sie mitnähme. Elsa wusste nicht, was mit ihr los war, und vor allem wusste sie nicht, wie es weitergehen sollte. Manchmal kam es ihr so vor, als wäre sie der allerletzte Mensch, der auf der Erde lebte. Dann breitete sich das taube Gefühl in ihrem Körper aus, und es war ihr unmöglich, auch nur den kleinsten Muskel zu bewegen. Doch es gab auch Momente, in denen eine große Wut in Elsa war. Eine Wut, die alle anderen Dinge zu überfluten drohte. Wie lange würde ihr Spiel mit den Glasscherben noch die Zauberformel gegen all das sein? Wie lange konnte es sie noch beschützen?
Als Anna Greve an diesem Abend nach Hause kam, stand Paulas Wagen vor der Tür.
„Hier, meine Süße, den habe ich euch mitgebracht. Komme gerade vom finnischen Weihnachtsmarkt, du weißt schon, der am Hamburger Hafen.“
Paula wies auf einen hölzernen Stern, in dessen Mitte eine kleine, kerzenförmige Glühlampe eingeschraubt war. Tom hatte ihn bereits am Rahmen des Küchenfensters angebracht und drückte nun auf den Lichtschalter. Sofort wurde der Raum in einen warmen, gelblichen Schein getaucht, denAnna mit dem Backen von Plätzchen, heimlichen Geschäftigkeiten, Zimtgeruch und Schnee verband. Seufzend ließ sie sich nieder und rieb ihre kalten Füße aneinander.
Von woher kam nur auf einmal dieser vorweihnachtliche Duft? Paula stand am Herd, rührte in einem von Annas roten Töpfen herum, und es roch tatsächlich nach Nelken, Wein und irgendwelchen Kräutern, deren Namen die Kommissarin nicht kannte. Das genaue Rezept für ihren berühmten Glühwein war Paulas Geheimnis. Anna wusste nur, dass sie außer den üblichen auch noch andere unbekannte exotische Gewürze mit hineingab und das Ganze abschließend mit Palmhonigkandis süßte. Nur wenig später hielt Anna einen Becher des köstlichen Getränks in ihren Händen und schmeckte dessen schwere Süße.
„Immer sorgst du für gute Laune. Danke, Paula.“
Anna rieb sich ihre schmerzenden Schläfen.
„Wie gern würde ich die Giraffe zurück in den Zoo schicken“, murmelte sie müde.
„Wir könnten ihr doch auf die Schnelle ein paar Plätzchen backen. Hast du Rizinusöl im Haus?“
„Nein, das würde die Aufenthaltsdauer auch nur unnötig verlängern. Ich werde wohl warten
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